Das Netz interviewt den Hl. Paulus: Ein Gespräch über das Römische Imperium und den Kapitalismus

Koblenz, 1.4.2023.
Das Ökumenische Netz hatte vor Jahren ein Treffen mit Papst Franziskus. Dieses Mal hat das Netz es sogar geschafft, den Heiligen Paulus von Tarsus zu interviewen. Das spannende Gespräch, das in ganz ähnlicher Form schon mal 2009 beim pax christi-Jahreskongress in Magdeburg stattfand, kann nachfolgend gelesen werden:

Ein Gespräch mit Paulus über das Römische Imperium und den Kapitalismus (auf der Grundlage des Römerbriefes: Röm 1,14-32; 3,21-26)

Frage des Ökumenischen Netzes an Paulus:

Deine Theologie, Paulus, ist für uns kaum verständlich. Ginge es nicht etwas weniger abgehoben und einfacher?

Paulus:

Vielleicht versteht Ihr mich nicht, weil ihr es euch mit der Bibel manchmal zu einfach macht. Ihr meint, ihr könntet alles unmittelbar verstehen. Dabei liegen fast 2000 Jahre zwischen uns. Da brauchen wir schon etwas Zeit, um uns zu verständigen. Wir leben ja in verschiedenen Welten… Wenn ihr mich verstehen wollt, müsst ihr meine Welt verstehen.

Netz:

Du erzählst uns aber nicht viel von Deiner Welt…

Paulus:

Das stimmt, da mache ich es Euch in der Tat etwas schwer. Aber ihr wisst doch einiges über das Römische Reich und wie die ChristInnen darin gelebt und gelitten haben. Wenn ihr das versteht, könnt ihr auch meine Theologie verstehen. Die ist keineswegs abgehoben, sondern auf das bezogen, was die Menschen, vor allem die Armen und Kleinen, die politisch Verfolgten im Römischen Imperium zu erleiden mussten.

Netz:

Dann erzähl doch mal etwas von dem, was du uns in deinen Briefen verschwiegen hast…

Paulus:

Wir haben das Römische Imperium als Gewaltherrschaft erlebt. Die Provinzen wurden ausgebeutet. Die Armen hungerten. Wer gelegentlich etwas durch Tagelohntätigkeit verdienen wollte, musste rund um die Uhr für geringen Lohn und angetrieben von Aufsehern malochen. Ich selbst habe das erlebt, als ich in solchen Betrieben geschuftet habe. Wer gegen die Verhältnisse im Reich aufmuckte, wurde vom alles kontrollierenden Militär platt gemacht… Auch ich habe die römischen Gefängnisse von innen kennen gelernt.

Netz:

Also, solche Erfahrungen hast du im Kopf, wenn du Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit in einem Atemzug nennst…

Paulus:

Genau so ist es. Den Gott Israels zu erkennen – so haben es uns die Propheten gelehrt – (Lest ihr die eigentlich noch?) heißt Gerechtigkeit kennen. Gott kennt das Leid in Ägypten. Er hat uns aus der Knechtschaft geführt und uns eine Ordnung der Gerechtigkeit gegeben, damit wir als Befreite leben können. Der Wahrheit Gottes müssen Verhältnisse entsprechen, in denen Menschen nicht geknechtet werden, sondern als von Gott Befreite leben können.

Netz:

Dann verstehe ich auch, was du mit der Formulierung meinst, die Wahrheit werde durch Ungerechtigkeit niedergehalten…

Paulus:

Ich meine das in einem zweifachen Sinn: Niedergehalten wird die Wahrheit über die Verhältnisse und die Wahrheit über Gott. Die Verhältnisse, die in Wahrheit von Gewalt und Unterdrückung bestimmt sind, werden z.B. Frieden, ‚Pax Romana’ genannt.

Netz:

So wird also die Wahrheit mit der Lüge vertauscht.

Paulus:

Damit kannst du auch den zweiten Aspekt verstehen, den ich herausstellen wollte: Wo Gerechtigkeit durch Ungerechtigkeit und damit Wahrheit durch Lüge ersetzt werden, da wird auch Gott durch Götzen ersetzt…

Netz:

Letzteres fand seinen Ausdruck im Kaiserkult. Da wurde die „Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes“ vertauscht mit „Bildern, die einen vergänglichen Menschen … darstellen“ (Röm 1,18).

Paulus:

Diese Verdrehungen von Gerechtigkeit in Unrecht, von Lüge in Wahrheit, von Gott in Götzen ergibt eine verdrehte, eine ‚perverse’ Gesellschaft. Sie wird so totalitär, dass es aus ihr keinen Ausweg mehr gibt. Um es kurz zu machen: Wenn ich vom Glauben an den Messias sprechen wollte, musste ich von der Welt, der römischen Gesellschaft, sprechen. In der römischen Gesellschaft musste sich doch der Glaube an den Messias als eine befreiende Kraft erweisen. Die Wahrheit Gottes, die in Jesus sichtbar wird, muss doch erfahrbar werden als Widerspruch gegen das Unrecht und die Lügen, die mit der römischen Herrschaft verbunden waren. Ich wollte die Christen ermutigen, auf die Wahrheit Gottes, also auf Gerechtigkeit und Wahrheit, zu hoffen und dem Unrecht und der Lüge zu widerstehen… Das ist doch alles andere als ‚abgehoben’?

Netz:

Was bedeutet denn dann der Glaube an den Messias in dieser römischen Gesellschaft?

Paulus:

Er sprengt den Rahmen dieser Gesellschaft. Das haben auch die Römer erkannt. Deshalb haben sie uns verfolgt. Jesus hat sich dafür eingesetzt, dass alle, vor allem die Armen und Erniedrigten, Zugang haben zu dem, was sie zum Leben brauchen. Es sollte keine Gesellschaft mehr geben, in der die einen oben und anderen unten, die einen Freie und die anderen SklavInnen sind. Das haben wir in unseren Gemeinden versucht zu leben. Das waren Ansätze einer anderen Gesellschaft.

Netz:

Das ist ja gut nachvollziehbar, auch dass Jesus dafür von den Römern hingerichtet wurde. Aber damit verstehe ich deine komplizierte Rede von der „Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben an Jesus Christus“ (Röm 3,22) immer noch nicht…

Paulus:

Das müsst ihr aus dem eben beschriebenen Zusammenhang verstehen. Das Imperium hat Jesus im Rahmen seiner Aufstandsbekämpfung hingerichtet – das habt ihr doch jetzt verstanden? Aber das war doch nicht das Ende. Gott hat ihn auferweckt. Damit hat er ihm Recht gegeben und das Imperium ins Unrecht gesetzt; Gott hat also den frei gesprochen, den das Imperium verurteilt hatte, und ihm in seinem Reden und Handeln recht gegeben, ihn also ‚gerechtfertigt’…

Netz:

Wer also daran glaubt, hält das Römische Reich nicht mehr für ‚alternativlos’ – um es in der Sprache unserer PolitikerInnen zu sagen. Für den, der an den Messias Jesus glaubt, kann die Welt nicht bleiben, wie sie ist – verstrickt in Unrecht und Unwahrheit. Die Wahrheit Gottes verlangt ‚wahre’ Verhältnisse. Statt Unrecht und Lüge besteht sie auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Wer an den Messias Jesus glaubt, lebt aus der Hoffnung, dass Gott das letzte Wort behält angesichts von Unrecht und Gewalt…

Paulus:

Das müsste doch auch euch im Ökumenischen Netz darin bestärken, die Gewaltherrschaft des Kapitalismus nicht für ewig zu halten. Wie ich das Römische Imperium, so müsst ihr euer Imperium, das der Herrschaft des Kapitals und die von ihm abgespaltenen, weiblich konnotierten und minderbewerteten Reproduktionstätigkeiten, analysieren. Da werdet ihr analog das entdecken, was ich im Blick auf Rom über die Verkehrung von Gerechtigkeit in Unrecht, von Wahrheit in Lüge, d.h. über die Vertauschung Gottes mit Götzen beschrieben habe. Unrecht ist es, alles Leben von der Vermehrung des Kapitals abhängig zu machen. Unwahr ist es, dies als ‚alternativlos’ zu verkaufen. Und ‚gottlos’ ist, wer das Kapital und die Abspaltung zum Götzen macht. Der ist – und das meine ich ganz wörtlich – Gott los.

Netz:

Ich beginne zu ahnen. Du bist uns näher als ich dachte. Du bist nicht abgehoben. Eher sind wir abgehoben, wenn wir ‚abheben’ von der Notwendigkeit, unser System des Unrechts und der Gewalt zu analysieren, und meinen, wir könnten uns mit diesen und jenen Reförmchen begnügen. Wie damals niemand dem Imperium und seinen Gesetzen entkam, entkommt heute niemand dem Gesetz der Verwertung des Kapitals um seiner selbst willen und der gleichursprünglich mit ihm verbundenen Abspaltung. Diesem allumfassenden Götzen müssten wir auf die Spur kommen, wenn wir den Gott der Gerechtigkeit, der Wahrheit und den Lebens entdeckten wollen. Deine Erinnerung an den Weg des Messias kann uns da auf die Spur bringen…

Das Gespräch führte Herbert Böttcher, Vorsitzender des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar