„Sorgt euch nicht…“ (Mt 6,25) – Auslegung zu Mt 6,19ff. mit Bezug zu Walter Benjamin

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Mt 6,19-34

19 Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, 20 sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! 21 Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. 22 Die Leuchte des Leibes ist das Auge. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein ganzer Leib hell sein. 23 Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein! 24 Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 25 Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? 27 Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern? 28 Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. 29 Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. 30 Wenn aber Gott schon das Gras so kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen! 31 Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? 32 Denn nach alldem streben die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. 33 Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben. 34 Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.

„Sorgt euch nicht…!“ Diese Aufforderung kann ein zynischer Ratgeberspruch sein. Das hängt davon ab, wer wen in welcher Situation dazu auffordert, sich keine Sorgen zu machen. Angesichts von Krieg und Klimakatastrophen kann ein solcher Rat als Aufforderung verstanden werden, über die realen Probleme hinweg zu sehen und die Leiden von Menschen zu ignorieren. Es ist also ‚ratsam‘, genauer hinzusehen, was gemeint sein könnte.

Im Evangelium nach Matthäus findet sich die Mahnung, sich nicht zu sorgen in der Bergpredigt (Mt 5 – 7). Der Abschnitt, der damit eingeleitet wird, geht zurück auf die sog. Logienquelle (Q), einer Sammlung von Worten aus der Verkündigung von Wanderpropheten, die durch das Land zogen, um die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden. Sie enthält noch ältere Traditionen der Verkündigung, sog. älteste Jesustraditionen. Auf diese Quelle haben Matthäus und Lukas in ihrem Evangelium zurück gegriffen.

In den Worten aus der Verkündigung der Wanderpropheten spiegelt sich deren Lebenssituation ebenso wie die Armut ihrer Adressat*innen in den römischen Provinzen Judäa, Galiläa und Samaria, dem späteren Syrien-Palästina. Die Verkündiger*innen ziehen los ohne Vorrat und Ausrüstung (vgl. Mt 10,5ff.) und werden von Menschen in sich vor Ort bildenden Gemeinden versorgt. Ihre Botschaft wird von führenden Kreisen als ‚gefährlich‘ angesehen. Deshalb werden sie verfolgt. Sie sind gesendet „wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Mt 10,16). Wenn sie „vor Statthalter und Könige geführt werden“, sollen sie sich „keine Sorgen“ machen, „wie und was ihr sagen sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben…“ (Mt 10, 19). Vor diesem Hintergrund sind die Akzente ihrer Verkündigung zu verstehen. Sie lehnen die Unterwerfung unter den Mammon ab, sprechen von Gottes Liebe auch zu den Feinden und treten für Möglichkeiten ein, sich ‚gewaltlos‘ zu wehren (Mt 5,38ff). Sie kündigen Gottes Gericht über diejenigen an, die als Gewalttäter agieren und Hoffnungen zerstören, dass es anders werden könnte. In all dem ermutigen sie dazu, Israels Gott als Schöpfer und ‚Vater‘ zu vertrauen, der Jesus gesandt hat, damit die Verhältnisse der Gewalt ‚umgekehrt‘ werden.

Sorgt euch nicht…“

Die Ermutigung, sich nicht zu sorgen, ist Ausdruck des Vertrauens auf Gott, das auch angesichts von Armut und Verfolgung gilt. Während die umherziehenden Verkünder*innen des Reiches Gottes und ihre Adressat*innen durchaus Grund haben, sich darum zu sorgen, wie sie den nächsten Tag überleben sollen, und wie sie angesichts von Verfolgung bestehen können, machen sich andere ganz andere Sorgen. Reiche Großgrundbesitzer und Bauern sind von der Sorge getrieben, wie sie sich vor Dieben, dem Verderben von Getreidevorräten, vor von Motten zerfressener kostbarer Kleidung oder ihre kostbaren Möbel vor Wurmfraß schützen können. Die ‚Ratgeber‘ aus Philosophenkreisen empfahlen den sich sorgenden Reichen, „sie sollten die Sorglosigkeit des einfachen Lebens annehmen. Luxuskleider und verfeinerte Speisen seien keine echten Bedürfnisse. Schlichte Kleidung, Getreide, Bohnen und klares Wasser genügten eigentlich zum glücklichen Leben.“1 In der Regel dürfte es beim Schwärmen von einem ‚einfachen Leben‘ geblieben sein, das von den Sorgen um den Reichtum wenigstens ‚ein bisschen‘ entlastete und zugleich zeigte, dass man kulturell auf ‚der Höhe der Zeit‘ und philosophisch ‚anschlussfähig‘ war.

Ganz anders sahen die Sorgen der ‚Bettelarmen‘ aus, also bei den Menschen, die von der Hand in den Mund leben mussten und darauf angewiesen waren, eine ‚milde Gabe‘ zu bekommen oder auch sich etwas zu ‚ergattern‘. Tagelöhner*innen mussten von einem Lohn zehren, von dem sie und ihre Familien nicht leben konnten. Dabei waren sie sowohl was den Lohn als auch was den Bedarf an ihrem Einsatz betraf, den Kalkulationen derer ausgeliefert, die sie angeworben hatten, z.B. von Grußgrundbesitzern in der Ernte (vgl. z.B. Mt 20,1-16). Kleinbauern und Tagelöhner waren von Verschuldung und damit von Versklavung bedroht. Die Erfahrung von Armut und Verfolgung war eingebunden in das System römischer Herrschaft: die Umverteilung des Landes von Kleinbauern an Grußgrundbesitzer (gerade im 1. Jahrhundert), die Ausbeutung der Provinzen für den Bedarf Roms, die Repressionen gegen Verschuldete und ‚Arbeitsunwillige‘, die militärische Sicherung der Strukturen römischer Herrschaft.

Armut und Repression bestimmen den Alltag der armen und weiter verarmenden Bevölkerung. Beides ist eine tödliche Bedrohung. Diese Bedrohungen werden in der Aufforderung, sich nicht zu sorgen, nicht ‚weggeratgebert‘, sondern in den Blick genommen. Es ist kein Zufall, dass sie sowohl im Zusammenhang der Armut als auch der Repression auftauchen. Sich keine Sorgen zu machen, ist in diesen Zusammenhängen Ausdruck der Ermutigung, sich weder von der alltäglichen Armut noch von der alltäglichen Repression nieder machen zu lassen. Die von Armut und Repression bedrohten Menschen sind mehr als ihre Sorgen. „Sorgt euch nicht…“ (Mt 6,25) und „Fürchtet euch nicht…“ (Mt 10,28) sind zwei Seiten derselben Medaille. Widerstandskraft und Furchtlosigkeit gibt das Vertrauen auf Gott. Die Ermutigung hat ihren Grund im Vertrauen auf Gott als Schöpfer. Um das deutlich zu machen, wird vom Geringeren auf das Größere geschlossen: Wenn schon Gott den Sperlingen und vergänglichen Blumen solche Beachtung schenkt, um wie viel mehr dann seinen armen und bedrohten Menschenkindern.

Der Kern der Botschaft der Wanderprophet*innen ließe sich vielleicht so formulieren: Lasst Euch nicht niedermachen von der alltäglichen Not. Lasst euch von der Not im ‚Kampf um Brot‘ nicht zu Feinden machen. Lasst euch nicht von denen einschüchtern, die Euch mit Repression bedrohen. „Der Mensch im Angesicht Gottes ist mehr als sein Tod und als Hunger und Not2(Hervorh. i.O.). Vertraut euch angesichts der alltäglichen Not der Fürsorge und angesichts tödlicher Repression der Macht Gottes an, die größer ist als die Macht derjenigen, die töten. In den Worten von Luise Schottroff: „Die Gefahr ist eine reale Bedrohung. Aber: Laßt euch nicht fertig machen, werdet nicht zu Objekten der Not, die euch ängstlich und hilflos macht. Die Befreiung von der Not (Martyriumsangst und Existenzminimum) kann nicht radikaler gedacht werden: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; der Mensch ist mehr als Essen und Kleidung.“3

Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde…“ (Mt 6,19ff.)

Im Zusammenhang der Aufforderung „Sorgt euch nicht…“ ist die Mahnung, keine Schätze zu sammeln, als Begründung dafür zu sehen, sich nicht von Not und Verfolgung beherrschen zu lassen. Dies wird durch die Einleitung mit „Deswegen sage ich euch: Sorget euch nicht…“ (Mt 6,25) deutlich. Das „Deswegen“ schließt unmittelbar an die geforderte Unterscheidung zwischen Gott und Mammon an: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24b). Damit wird der Abschnitt abgeschlossen, der auf die Sorgen blickt, die Reiche umtreiben: die Sicherung ihrer Schätze vor ihrer Bedrohung durch Raub und Vergänglichkeit (s.o.). Sie binden das Herz, sie bestimmen das Herz des Menschen. „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,21). Herz ist im hebräischen Denken nicht der Sitz des Gefühls, sondern meint den Zusammenhang von Wahrnehmen, Fühlen und Denken, also das, was den Menschen in seinem Kern bestimmt. Das darf nicht die Sorge um die Schätze sein. Von der Blendung durch die Schätze wird nicht nur „das Auge krank“, sondern der „ganze Leib finster“. Der ganze Mensch verliert das Licht, das einen klaren Blick und Orientierung ermöglicht.

„Deswegen“ (Mt 6,25) sollen sich diejenigen, die nicht vom Reichtum, sondern von der Not des Überlebens geplagt und Repressionen ausgesetzt sind, die den Reichtum schützen und die Sorgen der Reichen mindern sollen, nicht sorgen. Sie sollen vor den Gefahren geschützt sein, von denen die Sorgen der Reichen geprägt sind, was sie zur Abwechslung mal essen und trinken und anziehen sollen. Wenn sie sich an diesen Sorgen ausrichten, drohen sie – analog zu den Reichen – zu Sklaven des Mammon zu werden, der ihr Leben zerreißt zwischen Hass und Solidarität, zwischen Misstrauen und Vertrauen, und die Orientierung verlieren lässt. Die kann nur heißen: „Sucht … zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazu gegeben (Mt 6,33). Denn das Reich Gottes schließt all das ein, was zu einem befreiten Leben nötig ist – auch und gerade die materiellen Bedingungen.

Beobachtungen zu akademischen Auslegungen des Textes

  • Der Mensch an sich‘

In den Auslegungen unseres Textes in der akademischen Exegese finden sich keine sozialen Differenzierungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Kontext des Textes, seinem ‚Sitz im Leben‘ der damaligen Gesellschaft, ergeben. Es geht um den ‚Menschen an sich‘. Er wird – mit einer Formulierung von Karl Marx gesagt gesehen als ein „abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“4. Es sitzt zwar nicht als phantasierter „Übermensch“5 im Himmel, sondern in der Ontologie, die sein Wesen ‚jenseits‘ von Zeit, Gesellschaft und Geschichte bestimmt. Mit der Aufforderung sich nicht zu sorgen – so unsere akademischen Ausleger – „werden die Grundbedürfnisse jedes Menschen, Nahrung und Kleidung“6, angesprochen. Reflektiert werde eine „Besitzethik“ im Zusammenhang „umfassender Fragen des Verhältnisses der Jünger zum Besitz und der Sorge um materielle Sicherung der Existenz“7. Matthäus behandle alternative Grundhaltungen zu Reichtum und Besitz (6,19-24), sodann (6,25-34) zu falscher und rechter Sorge“8. Solche Anthropologiesierungen spiegeln die Ferne der akademischen Exegese zu dem, was Menschen damals und heute in Gesellschaft und Geschichte zu erleiden haben. Daran ändert sich auch nichts, wenn Fiedler seine Auslegung zu Mt 6,24-34 mit „Gottes Reich und Gerechtigkeit im Alltag suchen“9 überschreibt; denn auch der Alltag bleibt ein Abstraktum, weil ohne Bezug auf das, was sozial und gesellschaftlich den Alltag kennzeichnet. Auffällig ist, dass auch Klaus Wengst, der sich ja intensiv mit dem Kontext der Pax Roma auseinandergesetzt10 und in seine Auslegung der Offenbarung einbezogen hat11, von aktualisierenden (durchaus problematischen s.u.) Anmerkungen abgesehen im Horizont anthropologischer Auslegung bleibt. Auch bei ihm geht es bei Nahrung und Kleidung um die „Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse“12, um Sorgen als Ausdruck von „Angst ums Dasein“13 ohne Blick auf soziale Differenzierungen im Rahmen der römischen Herrschaftsverhältnisse.

  • Müßiggang und Arbeit – Zu den Sorgen akademischer Bibelausleger

Dass akademische Auslegungen unseres Textes doch nicht immer so ontologisch-zeitlos sind wie sie erscheinen bzw. vorgeben, macht ein Blick auf das deutlich, worum sie sich sorgen: die Sorge vor Müßiggang und Ignoranz gegenüber der Arbeit. „Die Kritik an der Sorge um Leben und Leib“ ziele „nicht darauf, dass der Mensch seine existenzsichernden Tätigkeiten aufgibt“, versichert Konradt14. Und „da die Übersetzung mit ‚sorgt euch nicht‘ im Sinne eines Aufrufs zur Untätigkeit missverstanden werden kann“, übersetzt Konradt mit „seid nicht besorgt“15. Um das Missverständnis abzuwehren, die Sorglosigkeit als Aufforderung zum Müßiggang zu interpretieren, betont Fiedler im Blick auf Nahrung und Kleidung: „Es ist natürlich, sich darum zu kümmern; es nicht zu tun, wäre verantwortungslos.“16 Bei dieser Akzentuierung, die keinen Bezug zum Kontext des biblischen Textes erkennen lässt, hat wohl der „Alltag“17 des neoliberalen Kapitalismus mit seinem Hauptgebot der ‚Eigenverantwortung‘ die Auslegung bestimmt. Im Kapitalismus ist die Diskreditierung des Müßiggangs die Kehrseite der Verpflichtung zur Arbeit. Wengst betont, dass bei dem Vergleich mit den „Vögeln des Himmels“ (Mt 6,26) und den „Lilien des Feldes“ (Mt 6,28) „keine romantische Naturbetrachtung“ vorliege, „die Menschen, deren Überleben ganz und gar nicht gesichert ist, über die Härte des Lebens hinwegtäuschen will“18. Der Hinweis auf die Härte des Kampfs ums Überleben führt aber nicht dazu, die Härte dieses Kampfes im Kontext von Bettelarmut und Angst vor Repression im römischen Reich zu verstehen. Stattdessen fragt er, ob die angesprochen Menschen als solche gedacht sind, die für Nahrung und Kleidung arbeiten. Dass dem so ist, scheint ihm sicher, weil Matthäus ja sein Evangelium „für eine ortsfeste Gemeinde“ geschrieben habe, deren Mitglieder für ihre Existenz zu sorgen hatten“19. Und da Wengst sich‚gut‘ kapitalistisch gedacht – Existenzsicherung nicht ohne Arbeit vorstellen kann, schlussfolgert er: „Der Text kann unter der selbstverständlichen Voraussetzung menschlicher Arbeit verstanden werden.“20 Ist der kapitalistische Fetisch Arbeit, die für die Vermehrung von Kapital verausgabt werden muss, zu einer ontologischen Kategorie erhöht und in antike Verhältnisse zurück projiziert, ist die Auslegung vor dem Missverständnis gesichert, Matthäus wolle Müßiggang empfehlen und das kapitalistische Arbeitsgebot, deren Kehrseite die ‚Eigenverantwortung‘ für die Existenzsicherung ist, untergraben: Dann kann der Text so gelesen werden, dass er nicht dazu auffordert, „nicht zu arbeiten, sondern sich keine Sorgen zu machen“21. Wo die Arbeit nah ist, ist Luther nicht fern. „Das Sorgen ist verboten, Arbeit ist geboten“, wird Luther von Wengst zitiert, um weiter zu folgern: „Es geht also darum, unter der Bedingung menschlicher Arbeit Freiheit von der Sorge um sich selbst zu praktizieren. Es geht darum, dass Menschen ihre Fähigkeit zur Arbeit nicht an die Stelle Gottes und dass sie nicht die Produkte ihrer Arbeit vergötzen und ihnen in Selbstbefangenheit dienen.“22

Wengst entgeht, dass im Kapitalismus nicht nur die Waren als Produkte der Arbeit vergötzt werden (Warenfetischismus), sondern gerade auch die Arbeit, die für die Produktion von Waren verausgabt werden muss, damit Kapital vermehrt werden kann. Existenzsicherung durch Arbeit ist dabei ein Nebeneffekt. Die Verpflichtung zur ‚Eigenverantwortung‘ ist die Verpflichtung dem Arbeitsfetisch zu dienen. Die Ontologisierung dieses Fetischzusammenhangs, also die Versuche, Arbeit und Existenzsicherung als anthropologische Konstante jenseits ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs aufzuladen, macht den Fetisch unsichtbar ebenso wie die Unterschiede zwischen römischem und kapitalistischen Alltag sowie römischen und kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse.

Bleibt der Arbeitsfetisch im Verborgenen, geraten auch gut gemeinte Aktualisierungen biblischer Zusammenhänge in eine Schieflage. Man mag „fragen, ob nicht der Kapitalismus mit seinem Prinzip der Profitmaximierung System gewordenes Heidentum ist“23. Mit Heidentum meint Wengst ein System, in dem nicht Gott, sondern Götzen/Fetischen gedient wird. So weit, so gut. Seine Bestimmung des Fetischs bleibt aber problematisch. Profitmaximierung ist der Zweck, den die einzelne Unternehmen verfolgen. Sie tun es im Zusammenhang und unter den Konkurrenzzwängen eines Systems, das auf den irrationalen Zweck der Vermehrung von Kapital durch die Produktion von Wert- und Mehrwert in der Verausgabung von Arbeit ausgerichtet ist. Das ist auch der entscheidende Unterschied zur Sorge um die Sicherung von Schätzen in der antiken Gesellschaft. Im Kapitalismus müssen die gesammelten Schätze verausgabt, reinvestiert werden. Wer sie durch Horten zu sichern trachtet, scheidet aus dem Konkurrenz‘spiel‘ aus. Wengst greift zu kurz, aber in seiner verkürzten Wahrnehmung des Kapitalismus ist er auch wieder konsequent, wenn er die Problematik der Vermehrung von Geld auf die Finanzwirtschaft und auf den Zins verkürzt. Für viele – das gilt ausdrücklich nicht für Wengst – führt ein solcher Weg zur Problematisierung der Gier im Kapitalismus, vor allem bei den Akteuren in der Finanzwirtschaft. Kapitalismuskritik wird dann – strukturell antisemitisch – auf die (“raffende“) Finanzwirtschaft fokussiert, ohne den Zusammenhang mit der scheinbar guten, weil „schaffenden“ produktiven Wirtschaft zu sehen.

Walter Benjamin und ein anderer Blick auf Vergangenheit und Gegenwart

Die Interpretation biblischer Texte in der akademischen Theologie verstrickt sich in Widersprüchlichkeiten, wenn sie die biblischen Texte ‚zeitlos‘ interpretiert, als gehe es darin um ‚zeitlose‘ Aussagen über Gott, ‚den‘ Menschen und ‚die‘ Welt. Entsprechend ‚zeitlos‘ gerät auch der Blick auf die Gegenwart, wenn auch sie unter die genannten Allgemeinbegriffe gefasst wird. Zwar kommt die Exegese nicht daran vorbei, dass sie Texte aus einer anderen Zeit interpretiert. Die andere Zeit wird aber wieder schnell reduziert auf andere Weltbilder in religiösen und kulturellen Zusammenhängen. Die berühmte Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘ der Texte kommt über die Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘ der Gemeinden kaum hinaus. Dass die Gemeinden einen ‚Sitz im Leben‘, von Armut und Unrecht im Rahmen von Herrschaftsverhältnissen haben, bleibt meist außerhalb des ‚ausgewogenen‘ akademischen Blicks. Das hindert aber nicht daran, Erfahrungen der Gegenwart, die für ‚normal‘ gehalten werden, in antike Gesellschaft zurück zu projizieren, als habe ‚der‘ Mensch immer schon gearbeitet oder unter Armut und Unrecht gelitten. Unterschiedliche Kontexte werden unter ‚Allgemeinbegriffe‘ subsumiert, ontologisiert und gleich gemacht. Das konkrete Leiden von Menschen wird ebenso ignoriert wie die Verhältnisse, in die es eingebunden ist. Unter dem Strich war alles angeblich immer schon so und wird immer so bleiben, weil die Natur ‚des‘ Menschen nun mal so ist.

Einen anderen Blick auf das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart eröffnet Walter Benjamin. Nach Benjamin entspringt die Lesbarkeit eines Textes nicht einfach aus dem Text selbst, sondern ist gebunden „an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt“24. Der ‚Zeitkern‘ der Vergangenheit und der ‚Zeitkern‘ der Gegenwart treten in eine Konstellation. Daraus eröffnet sich ein neuer Blick auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart.

Die Gegenwart, in der wir leben, ist von den tödlichen Krisen und Katastrophen geprägt, in denen sich die finale Krise der kapitalistischen Gesellschaft ausagiert: von zahlreichen (Bürger-)Kriegen, über immense soziale Spaltungsprozesse bis hin zur Zerstörung der Grundlagen des Lebens. In der Zeit Benjamins war es die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die sich abzeichnende Katastrophe des Faschismus, in der sich die Geschichte nicht mehr teleologisch-entwicklungslogisch im Licht des Fortschritts lesen ließ. Der Zeitkern, der die Geschichte lesbar werden lässt, ist nach Benjamin der „Augenblick der Gefahr“25. Der heutige Zeitindex ist dadurch geprägt, dass die Geschichte des Kapitalismus in ihrer finalen Leere, in ihrem finalen Nichts eine Dynamik entwickelt, die auf eine finale Selbstvernichtung als Weltvernichtung hinauslaufen kann.

Sorgen in der Krise des Kapitalismus

In der Gegenwart ist das Leben vieler Menschen von Sorgen geprägt. Sorgen bereiten der Krieg in der Ukraine und seine mögliche Eskalation zu einem atomaren Weltkrieg, die Gefahr gesellschaftlich nach unten abzustürzen, nicht mehr mithalten zu können im Kampf um Selbstbehauptung. Vor allem junge Menschen treiben die Sorgen um, was an Folgen der Klimakatastrophe auf sie zukommt, oder auch ob ihnen Altersarmut droht. Das Vertrauen in den ewigen Fortschritt ist eingebrochen. Dennoch fällt auf, das trotz aller Sorgen die Bindung an den Kapitalismus ungebrochen bleibt. Irgendwie kann es nur im Rahmen des Kapitalismus besser werden.

Walter Benjamin hat – ausgesprochen hellsichtig bereits vor etwas mehr als 100 Jahren – den Kapitalismus eine Religion genannt; denn er „dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“26. „Antworten auf alle Fragen gibt uns dein Wort“, wurde einmal gern und recht vollmundig in Gottesdiensten gesungen. Darauf vertraut kaum noch jemand. Umso mehr werden die Antworten auf alle Fragen vom Kapitalismus erwartet, der angesichts der Krise etwas neu reguliert werden muss: Nur er – so die Erwartungen – sichert die die materiellen Grundlagen des Lebens. Er gibt Sinn durch Arbeit und schafft Entlastung durch Unterhaltung. Für diejenigen, die dennoch von Fragen nach Sinn gequält werden, gibt es auf den Märkten Angebote für esoterische Sinnstiftung sowie Ratgeber zur individuellen Krisenbewältigung. Und wer in Depression gerät, kann sich therapieren lassen. „Außerhalb der Kirche kein Heil“ diesen Anspruch hatte einmal die Kirche erhoben. Inzwischen hat sie ihn an den Kapitalismus abgetreten. Im zur Religion gewordene Kapitalismus wird der gesamte Alltag zur Feier seines Kultes. In der Zelebrierung seines Kultes gibt es „keinen Wochentag<,> keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinn der Entfaltung allen sakralen Pompes<,> der äußersten Anstrengung des Verehrenden wäre“27. Er beherrscht die Wahrnehmung der Wirklichkeit. In ihm gilt es auszuhalten bis „ans Ende“28 auch wenn er zur Zerstörung der Welt führt. „Darin liegt liegt das Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist.“29 Die Sorgen, die Menschen gegenwärtig umtreiben, führen offensichtlich nicht dazu, den Kapitalismus in Frage zu stellen und seine Dynamik der Zerstörung zu begreifen, sondern dazu, sich umso mehr an ihn zu klammern. Die verzweifelte Absurdität dieser Sorgen zeigt sich gerade daran, dass sie ihre Hoffnung auf das setzen, was zerstört. Für viele Zeitgenossen scheint es „einfacher sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“ (Frederic Jameson). So gilt ihre Sorge dem Kapitalismus, ausgerechnet einem System, das die Welt auf ihr Ende zutreiben lässt.

In einer Konstellation mit Benjamin Mt 6,19ff. und die Gegenwart lesen?

„Die Schätze hier auf der Erde“ werden nicht durch „Motte und Wurm“ (Mt 6,19) zerstört, sondern durch die zerstörerische Dynamik des Kapitalismus, der verspricht, durch Wachstum nicht einfach Schätze zu sammeln, auch nicht (stofflichen) Reichtum, sondern Geld/Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Dies geschieht durch die Verausgabung von Arbeit. Unsere akademischen Bibelausleger sorgen sich nun darum, dass die Aufforderung, sich nicht zu sorgen, als Verweigerung der Arbeit durch Müßiggang missverstanden werden könnte. Arbeit gilt ihnen als anthropologische Selbstverständlichkeit, ohne darauf zu reflektieren, dass Arbeit als Allgemeinbegriff, unter den inhaltlich unterschiedliche Tätigkeiten subsumiert werden, ein ‚Produkt‘ der kapitalistischen Vergesellschaftung ist. Es wäre korrekt darauf hinzuweisen, dass ein ‚Stoffwechsel mit der Natur‘ tatsächlich immer notwendig ist, aber das ist nicht Arbeit, denn Arbeit ist nötig, um Wert und Mehr-Wert zu schaffen, damit das Kapital akkumulieren kann. Wenn diesem Motor die Puste, sprich die durch Technologie ersetzte Arbeit ausgeht, gerät auch die materielle Sicherung des Lebens in die Krise, da sie nicht Ziel, sondern ein Nebeneffekt des Ziels kapitalistischer Produktion ist, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Arbeit ist keine ontologisch-anthropologische Konstante – Menschen müssten immer arbeiten, um die materielle Grundlagen des Lebens zu sichern , sondern ist Teil des kapitalistischen Mammons, der nur über ihre Verausgabung vermehrt werden kann. Je mehr Arbeit durch Technologie ersetzt wird, desto mehr gerät der Kapitalismus in Krisen und zerstört die Grundlagen des Lebens, desto mehr klammern sich Menschen in unseren Breitengraden an den Kapitalismus, während im globalen Süden immer mehr Menschen außerhalb des Kapitalismus dem nackten und gewalttätigen Kampf um Überleben ausgesetzt sind.

Vielleicht ließe sich die biblische Aufforderung, sich nicht zu sorgen, so lesen, dass es perspektivisch ebenso unnütz wie unsinnig ist, darauf zu setzen, Leben und Überleben könnten im Kapitalismus gesichert werden, also sich ausgerechnet an das zu klammern, was nicht nur unsichere Schätze sind, sondern was das Leben und die Grundlagen des Lebens zerstört. Die Fixierung auf den Kapitalismus führt dazu, die Sorge um Leben und Überleben im Rahmen einer die Prozesse der Zerstörung noch befeuernden Konkurrenz auszutragen – in westlichen Gesellschaften als „unternehmerisches Selbst“ (Ulrich Bröckling) in von Krise und sich verschärfender Konkurrenz vorangetriebenen Prozessen der Selbstoptimierung, die nie an ein Ende kommen, sondern immer weiterer und neuer Anstrengung bedürfen, um im Kult der kapitalistischen Religion mithalten zu können. Im globalen Süden nimmt der nackte Kampf ums Überleben verstärkt Formen manifester Gewalt an. In diesen Zusammenhänge nehmen die Sorgen zerstörerische Züge an. Das biblische „Sorgt auch nicht…“ wäre zu verstehen als Einspruch dagegen, sich von den Sorgen fertig machen und zerstören zu lassen. Das dem parallele „Fürchtet euch nicht…“ wäre zu verstehen als Aufforderung, sich nicht furchtsam in sein Schicksal zu fügen, sondern furchtlos den zerstörerischen Verhältnissen die Stirn zu bieten, Einspruch gegen die Zerstörungsdynamik zu erheben und zwischen dem tödlichen Götzen der Vermehrung des ‚Mammon‘ um seiner selbst willen und dem Gott der Befreiung zu unterscheiden.

Dann kann auch in heutigen Verhältnissen das in den Blick kommen, was Jesaja als Rettung für den aus Babylon geretteten „Rest Israels“ formuliert hat. Er wird „sich nicht mehr auf den stützen, der ihn schlägt, sondern er stützt sich in Treue auf den HERRN, den Heiligen Israels (Jes 10,20). Was das als Perspektive bedeutet, formuliert Matthäus, wenn er sagt: „Sucht zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazu gegeben“ (Mt 6,34). In der Perspektive des Reiches Gottes geraten die Befriedigung der Grundbedürfnisse für alle in den Blick. Maßstab seiner Gerechtigkeit sind die Geringsten (Mt 25,31ff.). Die Aufforderung, sich von den Sorgen nicht in einen ebenso perspektivlosen wie zerstörerischen sozialdarwinistischen „Kampf ums Dasein“ treiben zu lassen, wäre mit einer realen Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Geringsten und darin für alle verbunden – einer Hoffnung, auf deren Erfüllung nicht einfach gewartet wird, sondern die in den messianischen Gemeinden solidarisch gelebt und solidarisch in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und harten Konflikten erkämpft werden will. Das kann dazu führen, dass „Sterben muss, wer an Götzen rührt“ (Sobrino)30. So ist es ausgesprochen realistisch, die Aufforderung, sich nicht zu sorgen, mit der Ermutigung, sich nicht zu fürchten, zu verbinden; denn werzuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“ (Mt 6,34) sucht, darf darauf vertrauen, dass der „Vater im Himmel“ sich um sein Leben sorgt.

Herbert Böttcher

1Luise Schottroff, Wolfgang Stegemann, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 57.

2Ebd., 61.

3Ebd., 62.

4Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW, Band 1, Berlin 2006, 378 – 391, 378.

5Ebd.

6Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart 2006, 180.

7Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015, 111.

8Hubert Frankemölle, Das Matthäusevangelium. Neu übersetzt und kommentiert, Stuttgart 2010, 51.

9Fiedler, 278.

10Vgl. Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit, München 1986.

11Vgl. Klaus Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010.

12Klaus Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreiches. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 22019, 177.

13Ebd., 178.

14Konradt, Evangelium nach Matthäus, a.a.O., 114.

15Ebd.

16Fiedler, 180.

17Ebd., 178.

18Wengst, Regierungsprogramm, a.a.O., 179.

19Ebd.

20Ebd. 179f.

21Ebd. 180.

22Ebd.

23Ebd., 182f.

24 Benjamin, Walter: Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts, in: Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften Band V 1, Frankfurt am Main 72015, 570 – 611, 578.

25 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I 3, Frankfurt am Main 72015, 1223 – 1266, 1243.

26 Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Fragmente. Autobiographische Texte. Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt am Main 1991, 100 – 103, 100.

27Ebd.

28Ebd. 101.

29Ebd.

30Jon Sobrino, Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador: Fakten und Überlegungen, Fribourg/Brig/Zürich 1990.