Vom Lockdown-light über Impfung zum rechtssicheren Sterben in Freiheit

Vom Lockdown-light über Impfung zum rechtssicheren Sterben in Freiheit

Beobachtungen zu Corona aus wertabspaltungskritischer Perspektive

Vorbemerkung

Der Text bündelt Reflexionen, die in der Auseinandersetzung mit dem Verlauf der der Corona-Pandemieim Rahmen des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar und von exit! entstanden sind1. Sie münden ein in die Kritik dessen, was in der vorhersehbaren vierten Welle geschieht. Standen am Beginn der Corona-Krise vor allem die Diskussionen um die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus im Vordergrund, folgten im Verlauf der Krise auch die staatlichen Akteure mehr und mehr dem Ruf nach Freiheit im Rahmen der kapitalistischen Normalität bzw. machten sich ihn zu eigen. Aufgrund des massenhaften Sterbens von Menschen mussten sie jedoch wieder zu – nun noch diffuseren – Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Menschen bzw. genauer gesagt zur Entlastung des an seine Grenzen kommenden Gesundheitssystems zurückzukehren, ohne die Freiheits- und Normalitäts-Rhetorik aufzugeben. Der erste Teil des Textes war Grundlage für einen Impuls beim exit!-Seminar im Oktober 2021, der Fokus auf die 4. Welle für ein Referat bei der Netzversammlung des Ökumenischen Netzes im November 2021.

Zur Ausbreitung des Corona-Virus

Bei der Ausbreitung des Corona-Virus leiden und sterben Menschen weltweit unter unwürdigen Bedingungen. Betroffen sind vor allem diejenigen, die in den kapitalistischen Verhältnissen ‚überflüssig‘ sind. Das gilt sowohl im Blick auf die ungebremste Ausbreitung des Virus (Obdachlosigkeit, enge Wohn-, prekäre und informelle Arbeitsverhältnisse, Altenheime) wie im Blick auf Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Das Virus „verschränkt sich mit ‚Pandemien‘ der Armut, der Ungleichheit, der patriarchalen Gewalt, der Militarisierung, des Autoritarismus, der Isolation“2. Das darf nicht hinter Zahlen verschwinden, wenn Menschen nicht noch mehr auf Nummern reduziert und zu Exemplaren gemacht werden sollen.

Virus und Maßnahmen zu seiner Eindämmung legen sich gleichsam über die kapitalistischen Krisenverhältnisse und wirken als deren Brandbeschleuniger. Das Virus könnte, wenn Überlegungen zur Zoonose zutreffend sind, aus dem Zusammenhang kapitalistischer Produktionsverhältnisse (Landübernutzung, Tierzuchtproduktion, Massentierhaltung u.a. zwecks Fleischproduktion) und der mit ihnen verbundenen Naturverhältnisse entsprungen sein3. Ausgebreitet hat es sich über die kapitalistischen Distributionsverhältnisse. Dabei stieß es auf unzureichende bzw. auf teilprivatisierte und durch Sparen lädierte Gesundheitssysteme und in den Krisenregionen der Peripherie auf die Auflösung der Strukturen von Markt und Staat.

Rückkehr des Primats der Politik?

Mit dem Virus umgehen muss eine Politik, der angesichts der in der Krise schwindenden Finanzierungs- und Handlungsmöglichkeiten immer mehr die Puste ausgeht. Die durch die wirtschaftliche Hilfen in der Corona-Krise noch einmal in die Höhe getriebenen astronomischen Summen an Verschuldung einschließlich ihres Inflationspotentials befeuern die Blasenbildung und können von künftiger Wertproduktion nicht ausgeglichen werden. Ziel der staatlichen Maßnahmen in ihrer Kombination von Hilfen, Einschränkung der Kontakte und Impfen ist es, den kapitalistischen Systemzusammenhang abzusichern bzw. seine Normalität wiederherzustellen.

Dabei folgt die Politik nicht einem stringenten Muster. Vor den Lockdowns wurde das Virus ignoriert bzw. verharmlost. Die danach einsetzenden politischen Maßnahmen sind durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet. Um keine Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen zu müssen oder gar noch einen Vorteil gegenüber China, das seine Produktion heruntergefahren hat, einzustreichen, wurden vor allem exportorientierte Bereiche vom Lockdown ausgespart. Die Einschränkungen zielten vor allem auf die Gastronomie, auf die Event- und Freizeitindustrie, den Kulturbetrieb sowie auf die Unterbindung privater sozialer Kontakte. Vor allem von letzterem waren Menschen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen in unzumutbarer Weise betroffen. Während manche ‚gelockdownte‘ Wirtschaftszweige mit staatlichen Hilfen ausgestattet wurden, gilt dies nicht für Menschen, die gezwungen sind, in prekären sozialen Zusammenhängen zu arbeiten und zu leben.

Die mit den ‚Lockdowns‘ verbundenen sozialen und sozial-psychologischen Probleme wie Isolation der Alten und Kranken, Einschränkung sozialer Kontakte, Folgen der Schulschließungen vor allem für sozial benachteiligte Kinder, Zunahme häuslicher Gewalt, Depressionen und Angststörungen etc. wurden von BefürworterInnen der ‚Lockdownmaßnahmen‘ eher ignoriert und von KrikerInnen als Argument gegen die Maßnahmen in Stellung gebracht – selbstverständlich ohne sie als ‚Vorerkrankungen‘ im Rahmen der kapitalistischen Normalität zu reflektieren, z.B. auf soziale Spaltungen und soziale Benachteiligungen im Bildungssystem, enge Wohnverhältnisse, psychische Belastungen durch Arbeitsverdichtung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse etc. Auf ‚Vorerkrankungen‘ traf das Virus nicht zuletzt in der sog. Zweidrittelwelt. Es legte sich auf von Hunger und Krieg, Zerstörung der Lebensgrundlagen und Flucht gekennzeichnete Lebensverhältnisse. All diese Probleme haben sich mit dem Virus verschärft. Aber auch die Maßnahmen gegen seine Ausbreitung traf Menschen besonders, die auf ihre informellen Beschäftigungen angewiesen sind, ohne die Ausfälle wenigstens partiell durch staatliche Hilfen kompensieren zu können.

Angesichts staatlicher Hilfs- und Schutzmaßnahmen träumeneinige von der Rückkehr des Primats der Politik.In der politischen Wirklichkeit kam es jedoch schnell zu einem wirren Hin und Her zwischen ‚Lockdown‘ und ‚Lockerungen‘. Hier spiegeln sich die Grenzen politischen Handelns, den proklamierten Schutz der Gesundheit mit den Systemnotwendigkeiten kapitalistischer Produktion und Konsumtion in Einklang zu bringen. Im Verlauf der Krise des Kapitalismus hatte sich ja bereits vor allem bei Einbrüchen im Finanzsystem gezeigt, dass es je nach Krisenverlauf zu immer schnelleren und diffuseren Wechseln zwischen den Polaritäten von Markt und Staat, Ökonomie und Politik, sprich ‚Freiheit‘ und Reglementierung gekommen war. Hier wird deutlich, dass auch dieses ‚Wechselspiel‘ an seine Grenzen gerät und zu immer diffuserem politischen Agieren führt. Mit dem ‚Wechselspiel‘ von ‚Lockerungen‘ und ‚Lockdown‘ lässt sich auch die Corona-Krise nicht ‚in den Griff‘ bekommen.

In manchen linken bzw. links-liberalen Kreisen stand die vermeintliche Rückkehr zum Primat der Politik unter der Verdacht, sie nutze Corona, um autoritäre Ziele bis hin zum Ausnahmezustand umzusetzen. Bei Hinweisen auf den Ausnahmezustand wurde in der Fixierung auf die Kritik der Corona-Maßnahmen (vor allem bei links-liberalen KritikerInnen) der konstitutive Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie, von Repression und Liberalismus ausgeblendet4. Kaum in den Blick kamen so die vor allem von der ‚corona-liberalen‘ Landesregierung in NRW verabschiedeten Verschärfungen des Demonstrationsrechts zur Ergänzung des schon seit 2018 geltenden rigiden Polizeirechts (z.B. Einschränkung der Versammlungsfreiheit, weitreichende Regulierungs- und Überwachungsmöglichkeiten durch die Polizei)5. Weithin unbeachtet blieben ebenso die verschärften Repressionen gegen Geflüchtete, wie z.B. die unter dem Druck der Corona-Krise durchgesetzten kollektiven Zwangsabschiebungen von Griechenland in die Türkei, verschärfte Strafverfolgung von Kirchenasyl. Die im Kirchenasyl praktisch gelebte Religion fällt offensichtlich nicht unter die gegen die Corona-Maßnahmen eingeforderte (Religions-)Freiheit.

In den letzten Jahrzehnten ist der Ausnahmezustand für Geflüchtete zum Normalzustand geworden. Hier wird exekutiert, was allen ‚Überflüssig‘-gemachten droht. Es ist durchaus zu befürchten, dass im Blick auf Corona oder im Windschatten von Corona durchgesetzte autoritäre staatliche Maßnahmen auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen ihre Anwendung finden und begleitet sein werden von mit der Krise zunehmenden Verwilderungen der Polizei- und Justizapparate (Korruption, Mafiaverbindungen, rechtsextreme Netzwerke u.a.). Dabei dürfte der von der Politik auf Dauer kaum mehr durchsetzbare ‚Ausnahmezustand‘ übergehen in politische und soziale Verwilderung wie dies bei die Pandemie ignorierenden politisch autoritären Regierungen wie in Brasilien oder Ungarn zu beobachten ist.

Medien

Die Diffusitäten der gesellschaftlichen Situation spiegeln sich auch in der Medienlandschaft. Sie funktioniert nicht uniform. Medien ziehen vor allem dann Aufmerksamkeit auf sich, wenn in ihnen möglichst emotionalisiert Gegensätze ausgetragen oder inszeniert werden. Das geschah in den Diskussionen um ‚Lockdown‘ und ‚Lockerungen‘ vor allem dadurch, dass BefürworterInnen von Einschränkungen und diejenigen, die immer lauter Lockerungen einforderten (vor allem Vertreter einzelner Branchen) samt der entsprechenden ‚Experten‘ gegeneinander in Stellung gebracht wurden. Talkshows schrecken in ihrer Suche nach Unterhaltung und Aufmerksamkeit nicht davor zurück, selbst die skurrilsten und abwegigsten Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Unter dem Mantel demokratischer Ausgewogenheit inszenieren sie Desinformation und eine ‚Diskussionskultur‘, die nach allen Seiten so offen ist, dass als Hochform demokratischen Diskurses auch die Frage diskutiert werden kann, ob die Erde tatsächlich eine Kugel oder vielleicht doch eine Scheibe ist. „Es ist falsch, verblendeten das Wort zu erteilen. Wir haben das journalistisch die ganze Zeit gemacht und damit riesigen Schaden angerichtet“, äußert sich Dirk Steffens, Journalist und Moderator bei „Terra X“ über den Umgang der Medien mit Corona- und Klimaleugnern gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Eine eher uniforme Medienkampagne war – wenn auch gebrochen durch unterschiedliche Phasen – in den Springer-Medien zu beobachten. Ausgerechnet sie mauserten sich zum Anwalt der Freiheit gegen einen autoritären Staat und mobilisierten die entsprechenden ‚Experten‘.

Zur Ethik und anderen Widersprüchlichkeiten

Wo es darum geht, den Einklang mit den Verhältnissen kapitalistischer Normalität herzustellen, sind Ethikräte und -kommissionen gefragt. Das „ganze Ethik-Gesumse“ (Roswitha Scholz) zielt darauf, allgemeine ethische Normen wie z.B. ‚Schutz der Gesundheit‘ oder ethische Orientierungen wie „Das Leben ist nicht das höchste Gut“ (Schäuble) mit Systemfunktionalität in Einklang zu bringen6. Ethische Diskurse werden zu einer Verträglichkeitsprüfung für die Vereinbarkeit vermeintlich universaler Werte und Normen mit den als unhinterfragte Norm(alität) vorausgesetzten Verhältnissen. Mit dem Hinweis, das Leben sei nicht das höchste Gut und sowieso endlich, soll in der Corona-Krise der Weg in die kapitalistische Normalität gebahnt werden – auch um den Preis der Freiheit zum Sozialdarwinismus.

Analog zur Problematisierung der Sterblichkeit des Lebens ‚an sich‘ wurde biopolitisch der Naturbeherrschungswahn als ethisches Problem ausgemacht. Ein biopolitisches Problem ist aber nicht einfach ein (von einem Naturbeherrschungswahn) biopolitisch produziertes funktions- und leistungsfähiges Leben und dessen Verlängerung um jeden Preis, sondern auch ein systemfunktionales Sterben-lassen – nicht zuletzt angesichts der Kosten, die mit dem Erhalt ‚überflüssigen‘ Lebens verbunden sind. In der Logik Kant‘scher Ethik kann dies sogar zur Pflicht werden. Die Klage über die Verdrängung von Sterben und Tod ist in diesem Zusammenhang nicht weniger zynisch als der Hinweis auf die Sterblichkeit des Lebens ‚an sich‘.

Dass es der Politik zu Beginn der Corona-Krise um den Schutz der besonders vulnerablen Alten und Schwachen gegangen sein soll, ist zu bezweifeln. Ins Kalkül gefallen sein dürften ‚die Alten‘ wohl eher als WählerInnenresservoir, aber auch der Skandal, der zu befürchten gewesen wäre, wenn es zu einem ‚Massensterben‘ gekommen wäre.

Ebenso wenig ist den Beschwörungen der Solidarität zu trauen. Analog zu den Träumen von der Rückkehr zum Primat der Politik träumten manche schon von einer Rückkehr zu einer solidarischen Gesellschaft, die Rücksicht nimmt auf ihre ‚Vulnerablen‘ und ‚Schwachen‘ und denen ‚Wertschätzung‘ entgegenbringt, die sich um sie kümmern (wenigstens durch Klatschen von Balkonen herab) oder im Dienst anderer im ‚Lockdown‘ wichtige Dienstleistungen übernehmen. Solche Solidarität erwies sich aber als umso fragiler, je größer der ökonomische und psychische Druck wurde, zur kapitalistischen Normalität zurück zu kehren. Dass die aufgeflackerten Solidaritätsgefühle (zumindest politisch) an den Grenzen des eigenen Landes endeten, zeigte der Kampf um die globale Verteilung von Impfstoffen. Hier tobt ein ‚Impfnationalismus‘, der blind ist auch für die Folgen im Blick auf die eigene Lage.

Die in der Krise – analog zur ‚Selbstbezüglichkeit‘ des Kapitals – auf ‚Selbstbezüglichkeit‘ in Gestalt von Eigenverantwortung und Selbstoptimierung in der Konkurrenz getrimmten Individuen sollten plötzlich wieder solidarisch sein7. Der Schalter ließ sich aber nicht plötzlich von ‚Selbstbezüglichkeit‘ auf Solidarität umlegen. Das wäre der Quadratur des Kreises und dem gleichgekommen, was Robert Kurz im Blick auf postmoderne Phänomene so beschrieben hatte: Die „Leute (sollen) gleichzeitig eigennützig und altruistisch, … durchsetzungsfähig und hilfsbereit; konkurrenzfähig und solidarisch sein … sollen … arm und reich sein, … sparsam und verschwenderisch, dick und dünn, asketisch und hedonistisch“8.

Das Einbrechen der kapitalistischen Halterungen in Polaritäten wie Ökonomie und Politik, Subjekt und Objekt wird durch die Corona-Krise noch einmal beschleunigt. Das wirre Hin und Her zwischen den Polaritäten geht immer schneller und quer durch die Maßnahmenpakete hindurch. Ähnliches gilt für die Subjekte. Sie sind hin und her gerissen zwischen Freiheit und Repression, Selbstbezüglichkeit und ‚Wir-Gefühl‘, Selbstbehauptung und Solidarität. Die Widersprüchlichkeiten schlagen wirr und quer zu Gruppierungen und in den einzelnen Subjekten durch und sind – erst recht in einer auf Reflexionslosigkeit getrimmten Gesellschaft – kaum mehr zu sortieren.

Die mit dem Einbruch der Arbeit und der Auflösung der kapitalistischen Halterungen leer und haltlos gewordenen Subjekte drohen gesellschaftlich und in ihrer ‚Identität‘ in eine „metaphysische Leere“ abzustürzen. Dies gilt umso mehr als mit den Corona-Maßnahmen soziale Kontakte eingeschränkt sowie Kompensationen durch Event und Unterhaltung abgeschnitten sind und Menschen unmittelbarer auf die sich mit der Krise der kapitalistischen Vergesellschaftung verschärfende Leere zurückgeworfen sind.

Suche nach identitären Gewissheiten

Die mit Corona noch einmal verschärfte ‚Haltlosigkeit‘ der kapitalistischen Krisenvergesellschaftung und ihre Vermittlung mit den Subjekten, lässt nach Zuflucht in identitäre Gewissheiten suchen. Einige Aspekte seien kurz genannt:

  • Angesichts der mit Corona noch einmal verschärften Dauerbedrohung durch die Krise – von der Angst, es nicht zu schaffen und abzustürzen, bis hin zur Klimakrise – können Ohnmachts-, Abhängigkeits-, Kränkungserfahrungen und Ängste verleugnet, verdrängt und die eigene Genialität im narzisstischen Größenwahn imaginiert werden. Das erniedrigte und gekränkte Individuum kann sich auch angesichts von Corona selbstherrlich setzen, zum Helden der Freiheit werden und sich in seiner Aufgeklärtheit oder in esoterischer Wahrheitsfindung im Innern sowie in Verbindung mit dem Kosmos, ‚den Sternen‘, gegen die Borniertheit der Verblödeten und/oder Manipulierten in Stellung bringen. Verschwörungsphantasien reduzieren dabei die Komplexität, beseitigen Ungewissheit, binden Angst und Aggression.

  • Auch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus enthalten Angebote identitärer Gewissheit – vor allem für eine immer prekärere Mittelschicht. Existenzängste bis hin zu Ahnungen, die gesamtgesellschaftliche Reproduktion und Normalität werde zusammenbrechen, lassen sich auf den Kampf gegen Corona projizieren. In den Maßnahmen gegen das Virus sowie den Impfungen scheint eine Handlungsmacht zurückzukehren, die in der Krise immer mehr auf immanente Grenzen stößt.

  • Einig sind sich fast alle darin, dass sie zur Freiheit der kapitalistischen Normalität zurück wollen: die einen über den Weg des Protests gegen die Maßnahmen, die anderen über Abwehrmaßnahmen, die in der Impfung gipfeln, die Gesundheitsminister Spahn mit der Parole anpreist: „Wir impfen uns in die Freiheit zurück“.

  • Aus einer vermeintlich emanzipatorischen links-liberalen Ecke ertönt der Ruf nach Freiheit als Ruf nach Demokratie, nach Freiheits- und Menschenrechten. Demirović will demokratisch aushandeln, wie mit der Seuche umzugehen ist und betont: „Wir behalten unsere Freiheit und treffen Entscheidungen, die entweder autoritär, liberal, sozialdarwinistisch oder autonom-sozialistisch sein können.“9 Demokratisch-menschenrechtlich geht alles, auch eine Entscheidung für Sozialdarwinismus.

Fokus 4. Welle: Schlimmer geht immer

Aktuell (November 21) befinden wir uns in der vierten Welle. In Deutschland hat sich die Zahl der täglich registrierten Corona-Toten zwischen dem 23.10. und dem 9.11.21 verzehnfacht, von 23 auf 23710 und ist danach weiter gestiegen und wird entsprechend der Entwicklung der Inzidenz dramatisch weiter steigen. Die Grenze von 100.000 Corona-Toten ist gerade überschritten worden. „Deutschland erlebt mit dem zweiten Corona-Winter gar kein Déjà-vu. Deutschland erlebt jetzt ein noch gar nicht gekanntes Desaster“, kommentiert der Kölner Stadt-Anzeiger11. In einer solchen Situation erklärt der Deutsche Bundestag auf Betreiben der neuen Ampelkoalition die epidemische Notlage für beendet.

In dem neuen Gesetzesentwurf der Ampelkoalition zu den Maßnahmen, die ergriffen werden können, lässt sich nach Franz C. Meyer, Professor für öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Bielefeld, der Rückbau der möglichen Maßnahmen sofort erkennen. Geblieben sind: Abstandsgebote, Maskenpflicht, 2G und 3G Regelungen, Hygienekonzepte, Kontaktnachverfolgung, Auflagen für Schulen und Hochschulen.12 Das Management der Pandemie wird vor allem auf die Länderebene verlagert, wobei die Liste der dann nicht mehr möglichen Einschränkungen lang ist: Keine Ausgangs- und Kontakteinschränkungen, keine Untersagung und Beschränkung von Reisen, des Kulturbetriebs und gastronomischer Einrichtungen, keine Schließung und Beschränkung von Betrieben, Universitäten, Schulen, Kitas…13 Den Ländern bleibt ein noch mehr ausgedünnter Katalog von Maßnahmen, die „wegen ihrer geringen Eingriffstiefe“ auch ohne Zustimmung der Landesparlamente von den Landesregierungen angeordnet werden können. Wenn einzelne Länder in diesen Tagen ihre Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus verschärfen, nutzen sie dafür das noch bis zum 15.12. geltende Infektionsschutzgesetz.

Die Gesetzesänderung wird mit der Schaffung von Rechtssicherheit begründet. Damit sollen die Maßnahmen auch vor Gerichten Bestand haben. Kassiert wurden aber einzelne Maßnahmen nicht – wie von den Ampelkoalitionären behauptet – wegen fehlender rechtlicher Grundlagen, sondern weil Gerichte sie in ihrer Anwendung für unverhältnismäßig hielten. Kritisiert wurde also nicht die fehlende oder unsichere Grundlage, sondern deren Anwendung in einzelnen Fällen. Nach Meyer macht gerade ein Beschluss des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH), auf den sich der FDP-Politiker Buschmann ausdrücklich mehrfach bezog, „sehr deutlich, dass es im epidemischen Kontext auch sehr offene Rechtsgrundlagen geben kann, vielleicht sogar geben muss. Erst bei den konkreten Maßnahmen stellt sich die entscheidende Frage, ob diese sich im konkreten Fall als verhältnismäßig darstellen. … Das Argument der Rechtssicherheit ist also offensichtlich falsch, zumal auch die sonstige Rechtsprechung ganz überwiegend nicht zu erkennen gibt, dass die maßgeblichen Grundlagen in Frage gestellt werden“14.

In der neuen Ampelkoalition hat sich offensichtlich die FDP durchgesetzt, assistiert von den dem bürgerlichen Liberalismus verbundenen Grünen und in guter angepasster sozialdemokratischer Tradition – offensichtlich auch ohne Widerstand der SPD. Für ‚die‘ Freiheit – natürlich im Rahmen der kapitalistischen Normalität – sind ja alle. Freiheitsparolen ertönen entsprechend dann, wenn es darum geht, möglichst schnell zur kapitalistischen bürgerlichen Normalität zurückzukehren. Wenn es aber um Einschränkungen des Demonstrationsrechts, um Repression gegen Geflüchtete etc. geht, folgen auch die FDP und ihre Koalitionäre dem Autoritarismus bis hin zum Ausnahmezustand an den europäischen Grenzen und in Lagern für Geflüchtete. Freiheit für die ‚Normalen‘, Repression und Tod für die im Rahmen der Marktfreiheit ‚Überflüssig-Gemachten. Es ist jene neoliberale Logik, nach der seit Beginn der 1970er Jahre in Chile unter Pinochet der Sozialstaat ab und der Polizeistaat aufgebaut wurde nach der liberal-sozialdarwinistischen Parole: Sozialstaat versklavt, Polizeistaat macht frei.

Gegen Schutzmaßnahmen gegenüber dem Virus wird nun die individualistische und asoziale Freiheitsideologie von Liberalen verschiedener Couleur in Stellung gebracht. Diese intellektuell einfältige Ideologie hat ihren Preis. Ganz in der Logik der sozialdarwinistischen Geschichte des Liberalismus wird er von denjenigen gezahlt, die beim Kampf ums Dasein die schlechteren Karten haben. Da hat sich sogar jedes ‚Ethik-Gesumse‘ erübrigt; denn die liberale Freiheit ist selbstevident und das autonome, selbstbewusst handelnde Subjekt erhaben über soziale Vermittlungen. Krisen werden da ignoriert und geleugnet, wo sie in Widerspruch geraten zu Systemzwängen und wo sie dem systemkonformen liberalen Selbstbild des mündigen Subjekts widersprechen.

Freiheit für Sozialdarwinismus

In einer neoliberal zugerichteten Gesellschaft, in der die Individuen eigenverantwortlich ihre Selbstoptimierung zu betreiben haben, um in aller Freiheit für den Kampf ums Dasein gerüstet zu sein, stößt eine sozialdarwinistisch konnotierte Freiheit auf hohe Plausibilität. Den Preis dieser Freiheit zahlen angesichts von Corona diejenigen,

  • die auf den Intensivstationen an Corona sterben, ebenso wie diejenigen, die angesichts akuter Erkrankungen z.B. an Herzinfarkten oder Schlaganfällen oder als Schwerverletzte nicht oder zu spät behandelt werden können,

  • die als Ärzte und Pflegepersonal auf den Intensivstationen überlastet sind,

  • alle, die durch eine Impfung nicht geschützt werden können und nicht zuletzt

  • die Kinder unter 12 Jahren, die (noch) nicht durch eine Impfung geschützt werden können und deren Krankheitsbilder ähnlich gravierend sind wie die der Erwachsenen, auch wenn sie seltener vorzukommen scheinen – eine Verharmlosung als ‚allgemeines Lebensrisiko‘, wie es die rheinland-pfälzische noch im Juli formulierte, entspricht jedenfalls nicht der Realität.

Laut NRW-Gesundheitsamt liegt die Inzidenz der Null bis 9-Jährigen bei 276, die höchste Inzidenz bei den 10 bis 19-Jährigen (344)15. Mit der wachsenden Inzidenz wächst auch die Gefahr, vor der Michael Hallek, Internist von der Uni-Klinik Köln, warnt: „Jeder einzelne Patient auf der Intensivstation leidet schrecklich, und es sterben viele junge Menschen vor unseren Augen.“16 Gleichzeitig wächst die Gefahr massiver Spätfolgen. Ein wesentlicher Grund für die steigende Inzidenz bei Kindern und Jugendlichen ist die nicht mögliche oder zu späte Impfung. Statt aber diese Gruppen z.B. in Kitas und Schulen hinreichend zu schützen (Luftfilter, Maskengebot, vermehrte Testungen), werden sie der Durchseuchung ausgesetzt und das Instrument genereller Kita- und Schulschließungen wird entsorgt. Indessen mahnt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz Peter Meidinger, davor, „die Politik dürfe die Durchseuchung der Schulen nicht einfach in Kauf nehmen“17. Nachdem ‚die Alten‘ durch Impfung für ca. 5 Monate geschützt waren, drohen vor allem Kinder und Jugendliche zu Opfern einer Durchseuchungspolitik zu werden, während jüngere Geimpfte ‚ihre Freiheit‘ zurück bekommen und Ungeimpfte um der Freiheit willen zur Impfung verpflichtet werden sollen. Den Preis dafür könnten Kinder und Jugendliche zahlen, die ohne hinreichenden Schutz in den ‚systemrelevanten‘ Kitas und Schulen zwecks elterlicher ‚Freiheit‘ zur Arbeit ‚verwahrt‘ und auf ihre Verwertbarkeit vorbereitet werden. Und auch ‚die Alten‘ zahlen wieder ihren Preis, und zwar den des hundertfachen Sterbens, da trotz frühzeitiger Hinweise, nicht rechtzeitig ‚geboostert‘ wurde und die dafür notwendige Infrastruktur in Form der Impfzentren größtenteils geschlossen wurde – und erst jetzt, bei über 300 Toten am Tag, wieder geöffnet werden.

Die Politik scheint in Deutschland besondere Rücksicht auf Impfskeptiker zu nehmen. Das dürfte nicht einfach dem Respekt vor ‚der‘ Freiheit geschuldet sein, sondern einen spezifisch deutschen Hintergrund haben. Nicht zufällig scheint die Impfunwilligkeit in deutschsprachigen Ländern besonders ausgeprägt: Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg zeigt die Verbindung von bürgerlichen Existenzängsten, links-grün-alternativem Milieu und vor allem der Anthroposophie.18 Letztere durchzieht gerade auch ein esoterisches ‚Denken‘, das auf die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts zurückgeht, deren inhaltlicher Background u.a. Nietzsches Übermenschentum ist. Auch da ist der Weg zum Sozialdarwinismus gebahnt und das gemeinsame Agieren mit Rechtsextremen kein Zufall mehr.

Statt Primat der Politik politische Diffusion

Sozialdarwinistische Wege sind letztlich Ausdruck der Selbstaufgabe der Politik. Sie lösen die Polarität von marktkonformer (sozialdarwinistischer) Selbstregulation und politischer Regulierung auf. Damit folgen sie der sich zuspitzenden Krisensituation, die in den vertrauten Polaritäten nicht mehr zu überwinden ist und lassen der Verwilderung der Krisenverhältnisse ihren Lauf. Damit haben sich die Widersprüchlichkeiten der Verhältnisse aber nicht erledigt, sondern schlagen zurück:

  • Spahns Parole: ‚Wir impfen uns in die Freiheit zurück‘, wurde schnell dadurch dementiert, dass die Impfung zwar wesentlich vor schweren Verläufen schützt, bei nachlassendem Immunschutz aber immer weniger davor, dass auch Geimpfte das Virus an Ungeimpfte weitergeben können und es damit zu Erkrankungen von Ungeimpften – und zunehmend auch von Geimpften, insbesondere denen mit schwachem Immunsystemen – und deren Folgen kommen kann. Die Rückkehr zur ‚Normalität‘ ist nicht so unbeschwert wie Schönredner à la Spahn und FDP sich das ausgemalt hatten. Die Versprechungen vom Ende der epidemischen Lage, immer mehr Lockerungen, ‚Nie mehr Lockdown‘, keine 2- oder 3G-Regeln am Arbeitsplatz, keine Impflicht erweisen sich als vollmundig und ignorant gegenüber der Realität. Sie haben die Politik in eine Situation manövriert, in der PolitikerInnen lieber bei diesen Reden bleiben wollen als einen Irrtum zuzugeben, der Menschenleben kostet. Dabei sind sich WissenschaftlerInnen weitgehend einig: Nur eine aufeinander abgestimmte Vorgehensweise vom Impfen über flächendeckendes G2 bis hin zum Tragen von Masken und flächendeckender Schließung von Einrichtungen sind notwendig, um die vierte Welle einzudämmen bzw. zu brechen. Genau dafür gibt es trotz aller Vorhersehbarkeit19 wieder einmal keinen Plan. Stattdessen wird das Ablegen der Masken zum trotzigen Festhalten an den illusionären Versprechungen und dabei selbst zur Illusion, mit den Masken sei auch das Virus verschwunden. Der Kampf gegen die Masken wird zum Kampf dagegen, dass in den Masken die Bedrohung sichtbar wird. Ganz in der archaischen Logik, den Boten für die schlechte Nachricht, die er überbringt zu töten, soll mit dem Verschwinden der Maske ihre negative Botschaft und deren Grund zum Verschwinden gebracht werden. Die verdrängte Realität aber meldet sich mit den wieder sichtbarer werdenden Bedrohungen zurück und wird die Politik unter Legitimationsdruck setzten.

  • Mit der Kluft zwischen Impfung und Sicherheit meldet sich die Widersprüchlichkeit zwischen liberaler Freiheit und sozialer Verantwortung zurück. Eine unbeschwerte Rückkehr zur ‚Normalität‘ wird u.a. erst dann möglich sein, wenn mehr Menschen geimpft sind. Daher geht es bei der Frage nach der Impfung nicht einfach um eine Frage individueller Freiheit, sondern um die Vermittlung des Lebens der einzelnen mit den Verhältnissen. Dies gilt sogar für die globalen Zusammenhänge, in denen der Impfnationalismus der wirtschaftlich ‚Starken‘ sich an globalen Lieferketten und Handelswegen bricht, die für den globalen Kapitalismus unverzichtbar sind. Produktions-, Handels- und Infektionsketten sind so miteinander verbunden, dass es mit der Ausbreitung des Virus und Maßnahmen zu seiner Eindämmung zu Lieferengpässen kommen konnte. Dies heizte zugleich die Inflation an, weil Angebotsengpässe zu höheren Marktpreisen führen. D.h.: Mehr Freiheit für das Virus bedeutet weniger Freiheit für die Wirtschaft. Dass die ungebremste Ausbreitung des Virus längerfristig auch für die Wirtschaft bedrohlich ist, haben Wirtschaftsverbände inzwischen erkannt und plädieren durchaus für Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus – im Unterschied zu politisch Liberalen, die unirritiert an ihrem sozialdarwinistischen Kurs festhalten.

Die Politik witterte einen kurzfristigen Vorteil aus der Liaison von Freiheit fordernden Quer-, liberal- und manch links Denkenden. Dabei wurde die Kritik von WissenschaftlicherInnen ebenso ignoriert wie diejenige von vermeintlichen Panikmachern und Moralisierern. Mittlerweile scheint es längerfristig denkenden Wirtschaftlern zu dämmern, dass die Wirtschaft erst wieder in Gang kommen könnte, wenn es gelingt, das Virus zu bändigen. Dann stände die Politik mal wieder vor die Situation, erneut die Pferde, sprich die Polaritäten zu wechseln, einschließlich all der Probleme, die das mit sich bringt: vom Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen bis hin zu den immer weniger manipulierbaren Grenzen des Handelns in den vertrauten Polaritäten.

Selbst dieses Wechseln der Polaritäten stößt auf Grenzen. Nicht nur die Zeitabstände, in denen es zu wirrem Hin und Her kommt, werden kleiner. Die Anzeichen dafür mehren sich, dass die Wirrnis quer durch die agierenden Personen läuft. Die SPD-Co-Vorsitzende Esken empfiehlt den Ländern, doch im Gesetz kassierte strengere Maßnahmen in Richtung Lockdown umzusetzen, solange das noch möglich ist. Der für die neoliberale Zurichtung der Krankenhäuser mit zuständige NRW-Gesundheitsminister Stamp von der FDP versucht, die katastrophale Situation in den Krankenhäusern durch den Hinweis zu relativieren, es fehle an Pflegekräften, da zu viele von ihnen den Job aufgäben.

In der politischen Diffusion wird ein eklatanter Realitätsverlust sichtbar. Er zeigt sich vor allem in der selbstgefälligen Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dazu führte, dass die Politik in die vermeidbare vierte Corona-Welle schlitterte und eine gegenüber dem vergangenen Winter noch dramatischere Situation herbeiführte. Mitten in dieser Welle die epidemische Notlage aufzuheben, ist ein besonders Kennzeichen solcher Ignoranz. Sie ist – und darin liegt ihre Tiefendimension – Ausdruck des nicht zuletzt dem Krisenverlauf geschuldeten Objektverlustes der Politik. Sie versucht nicht, einem Gegenstand gerecht zu werden, sondern verliert sich in der eigenen Inszenierung. Es geht nicht darum, zu einem Sachproblem objektbezogen Stellung zu nehmen und entsprechend zu handeln, sondern darum, sich attraktiv in Szene zu setzen. Die Inszenierung ist auf Aufmerksamkeit und Zustimmung aus. Dabei gerät das Objekt aus dem Blick. Geht die Inszenierung daneben, ist das Problem nicht ein Irrtum in der Sache, sondern eine fehlerhafte Kommunikation, die zu einem Missverständnis führte. So korrigierte der in den Tagesthemen von Moderator Zamperoni hinsichtlich seiner Aussage, Maßnahmen wie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen seien „nach wissenschaftlichen Untersuchungen“ unwirksam vorgeführte und durch die Klarstellungen der Wissenschaftlerin Viola Priesemann gerüffellte FDP-Chef Linder nicht den sachlichen Unfug, den er von sich gegeben hatte, sondern entschuldigte sich dafür, dass er sich missverständlich ausgedrückt habe20.

Eine Kostprobe so gelagerter Kommunikation lieferte auch der FDP-Generalsekretär Volker Wissing: „Unser Gesundheitssystem ist stabil, die Gesundheitsversorgung der Bürger gesichert, die ‚epidemische Notlage von nationaler Tragweite’ kann aufgehoben werden“, twitterte er. Als ihm die Entrüstung derer entgegenschlug, die auf die wachsenden Infektions- und Todeszahlen hinwiesen, löschte er den Tweet, nicht aber das politische Vorhaben, das kontrafaktisch und gegen virologische Expertise durchgesetzt wurde. Korrigiert wird die Kommunikation, nicht die Sache.

Politischer Liberalismus als ‚letzter Schrei‘?

In dieser konfusen durch den Verlust des Objekts gekennzeichneten Situation scheint gegenwärtig der politische Liberalismus in der ganzen Hohlheit seiner Freiheitsphraseologie als letzter Rettungsanker des politischen Personals zu sein. Es ist kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Krise der politische Liberalismus – gegenwärtig in einer unheimlichen Geistesverwandtschaft von AFD, FDP und Grünen samt sozialdemokratischem wie zuvor christdemokratischem Kuschen davor – politisch zum Zug kommt. Seinen originären Ort hat er in der Etablierung des Kapitalismus. Seine Aufgabe war es, einer kapitalistischen Gesellschaft den Weg zu bahnen, den Erfolgreichen Freiheit zu versprechen und die Leichen unsichtbar zu machen oder als Preis des Fortschritts zu rechtfertigen. Auf eine kurze westliche Phase eines sozial temperierten Kapitalismus folgte mit der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus – als einer Krise der Verwertung von Arbeit – der neoliberale Kapitalismus. Er propagiert die Wende von sozialer Verantwortung zu Eigenverantwortung einschließlich der Verpflichtung zur Selbstoptimierung. Diese Propaganda ist die Begleitmusik zu immer schärferer Anpassung an die vom Kapital diktierten und in der Krise enger werdenden Verwertungsbedingungen und die damit einhergehenden Zerstörungen in sozialen und ökologischen Bereichen. Wer in der sich zuspitzenden Konkurrenz nicht an sich zuerst oder allein denkt, droht aus dem Rennen geworfen, sprich sozialdarwinistisch selektiert zu werden… Der Liberalismus verspricht Freiheit durch Unterwerfung unter die Zwänge kapitalistischer Verhältnisse für diejenigen, die es schaffen, darin erfolgreich zu sein.

Freiheit durch Unterwerfung! In diesem Zusammenhang zeigt sich bereits, dass Freiheit und Repression im Liberalismus zusammen gehören wie zwei Seiten derselben Medaille. Die angesichts von Corona propagierte Freiheit hat ihre Kehrseite im Sterben derer, die sich nicht ausreichend schützen können ebenso wie in den Belastungen für das medizinische Personal.

Wo von Freiheit die Rede ist, ist die Rede vom Recht nicht weit. Gleichheit vor dem Gesetz und Rechtssicherheit ist hier das Versprechen. Aber auch dem Recht fehlt das Objekt. Es gilt als formales Recht unabhängig von seinem inhaltlichen Objekt. Die Ampelkoalition rühmt sich, mit dem Ende der epidemischen Notlage und dem neuen Infektionsschutzgesetz die Maßnahmen gegen das Corona-Virus ‚rechtssicher‘ zu machen. Herzlichen Glückwunsch, nun kann sich das Virus ‚rechtssicher‘ ausbreiten, Menschen können ‚rechtssicher‘ schwer erkranken und auf den Intensivstationen ‚rechtssicher‘ sterben. Als Symptome solcher Verwilderung sind in der Corona Krise zudem erkennbar:

  • Indikator zur Beurteilung der Schwere der Krise ist die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, nicht die Toten. Bei einer höheren Belastbarkeit des Gesundheitssystems könnten ‚wir‘ uns mehr Tote und damit mehr Freiheit leisten.

  • Die Ignoranz gegenüber Tod und Sterben gilt nicht mehr ‚nur‘ den Hunger- und Klimatoten sowie denen, die auf der Flucht sterben, sondern auch den Corona-Toten in der eigenen Gesellschaft – solange es nur nicht so viele sind, dass sie doch aufs Gemüt schlagen und dann doch die Stimmung verderben. Was an Ignoranz und Aggressivität gegenüber denen praktiziert wird, die als ‚Überflüssige‘ scheinbar ‚außerhalb‘ der eigenen Gesellschaft stehen, schlägt auf die vermeintlichen Innenbereiche der Gesellschaft zurück.

  • Ignoranz verbindet sich auch in der Corona-Krise vielfach mit Aggressivität gegenüber denen, die Schutzmaßnahmen durchsetzen. In Idar-Oberstein wurde der Bedienstete einer Tankstelle sogar erschossen, nachdem er einen Kunden auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Bei den Protesten gegen Corona-Maßnahmen eskaliert die Gewaltbereitschaft. Verschwörungswahnsinn geht mit esoterischem Irrationalismus und mit Antisemitismus einher. Der Krieg beim ‚Kampf ums Dasein‘ wird nicht mehr nur an den Außengrenzen in der Abwehr Geflüchteter oder zwecks Erhalt der Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems ausgefochten, sondern auch im Innern der Gesellschaft(en) gegen Menschen, die vermeintlich die eigene Freiheit samt des mit ihr oft einhergehenden narzisstischen Größenwahns bedrohen. Sie scheinen an den zum Symbol der Unfreiheit gewordenen Masken identifizierbar.

  • Selbstbezügliche, auf Eigenverantwortung konditionierte Subjekte tun sich schwer damit, den anderen und das Ganze der Verhältnisse in den Blick zu nehmen und solidarisch zu handeln, was in der Pandemie bereits im Tragen von Masken seinen Ausdruck finden könnte. Die angesichts kapitalistischer Krisen – je nach Befindlichkeit – beklagte Ohnmacht oder vielbeschworene Handlungsmacht wäre als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Virus recht leicht und unmittelbarer ‚zu haben‘.

  • Auch aus den Kirchen sind außer sehr späten Impfaufrufen der Bischöfe Bode und Hanke (am 19.11.21) keine Aufrufe zu Rücksicht und Solidarität mit den Gefährdeten zu hören, nicht einmal die Maßnahmen zum Schutz vor der Ausbreitung des Virus im eigenen Betrieb und in den Gottesdiensten sind ausreichend. Sachsens evangelische Landeskirche betont, sie plane keine 2G-Regel für Gottesdienste. Landesbischof Bilz stellte kategorisch fest, diese kirchlichen Veranstaltungen müssten um jeden Preis offen gehalten werden – im Bistum Trier sind erst am vergangenen Wochenende (26.11.21) Maßnahmen für mehr Sicherheit ergriffen worden. Wurde zu Beginn der Pandemie von Theologen noch über Corona und Theodizee räsoniert und von SeelsorgerInnen über den tieferen Sinn von Corona geratschlagt, scheint angesichts der aktuellen dramatischen Entwicklungen die größte Sorge der Frage zu gelten, ob denn die Weihnachtsgottesdienste gefeiert werden können und ob im Blick auf den für die Weihnachtstimmung so wichtigen Gesang doch lieber zwei als fünf Strophen gesungen werden sollen. Dass damit der Inhalt des Festes, an dem Gottes Solidarität mit den Schwachen erinnert wird, und die Schreie derer, die unter der Pandemie leiden und an ihr zugrunde gehen, kaum mehr Raum haben, scheint nicht ins Bewusstsein vorzudringen. Der Verlust des Objekts ist nicht nur in der Politik zu beklagen.

Die gegenwärtige liberale und gesellschaftlich weithin akzeptierte Freiheitsphraseologie samt ihrer sozialdarwinistischen ‚Strategie‘ wirkt wie eine Flucht nach vorne nach dem Motto: Wenn es kein Mittel gegen Barbarisierung gibt, dann machen wir sie wenigstens selbst, oder ähnlich banal: Augen zu und durch. Erfahrungsvorräte aus der Geschichte des Liberalismus gibt es ja genug … Zwischen Liberalismus und autoritären Kriseninterventionen hin und her gerissen wird die Krise weiter ihren katastrophischen Gang21 sozialdarwinistischer Verwilderung gehen.

Nicht nur Corona

Und ganz zuletzt: Um einer Verengung der Diskussion auf Corona zu entgehen, wären Fragen wie Klimakrise samt Flucht vor der Zerstörung der Lebensgrundlagen, Afghanistan und und und in die Diskussion einzubeziehen und zu fragen, inwieweit sich hier ähnliche Problemlagen zeigen wie bei Corona, z.B. Leugnung bzw. Verdrängung bereits der Krisenerscheinungen, die Weigerung, die Zusammenhänge mit der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung wahrzunehmen, ignorantes ‚Weiter so‘, auch wenn die Katastrophen in Verwilderung umschlagen, ‚Weiter so‘ mit Handlungsfetischismus sowie mit und ohne „Ethik-Gesumse“ im Rahmen der vorausgesetzten, zerfallenden und immer wirrer durcheinander gehenden Verhältnissen angesichts der Auflösung ihrer polaren Halterungen …

Angesichts der diversen miteinander über Wert und Abspaltung verbundenen Krisen wird es jedoch nicht einmal für die beim Kampf ums Dasein Starken Perspektiven geglückten Lebens mehr geben können. Zudem werden weitere Pandemien ‚ausbrechen‘. Das garantiert nicht zuletzt der Umgang mit Tieren und ihren Weidegründen im Zusammenhang industrialisierter Landwirtschaft einhergehend mit dem ungestillten Fleischhunger im Rahmen der kapitalistischen Normalität und ihrer Wachstumszwänge. Dabei ist von der Vertreibung von Menschen von ihrem Land, das zur Fleischproduktion in Wert gesetzt wird, der Rodung von Wäldern, von Monokulturen für Viehfutter, von Verseuchung der Böden und Klimawandel noch nicht einmal die Rede. Hier wird die Frage nach dem Handeln komplizierter, weil sie mit der Frage einhergehen muss, wie es zu einem kategorialen Bruch mit den Fetischverhältnissen kommen kann. Wenn aber solidarisches Handeln bereits an einer banalen und leicht handhabbaren Frage wie der des Maskentragens zu scheitern droht, die Politik – vor sich her getrieben von der Lautstärke der ‚Lockerer‘ und dem Krawall von Querdenkern und Verschwörungswahnsinnigen – wirr und kopflos agiert, wächst die Ratlosigkeitwächst die Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll, ähnlich den Infektionszahlen exponentiell. Und es braucht kaum Phantasie, um sich auszumalen, wie Kämpfe aussehen, wenn die finale Krise des Kapitalismus und deren Erscheinungen den kapitalistischen Normalgesellschaften des globalen Nordens noch näher ‚auf die Pelle‘ rückt…

Herbert Böttcher

2Jule Manek, Usche Merk, In Turbulenzen. Die Pandemie fordert Einzelne und Gesellschaften. Eine psychosoziale Ringvorlesung erkundet die sozialen und affektiven Folgen, in: medico international, rundschreiben 03/21, 44f.

3Vgl. Rob Wallace, Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobuisness zu tun hat, Köln 2/2021.

4Vgl. Roswitha Scholz, ‚Die Demokratie frisst immer noch ihre Kinder‘ – heute erst recht! In: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 16/2019, 30 – 60.

5Vgl. Verachtung demokratischer Teilhabe. Geplantes NRW-Versammungsgesetzt führt Grundrecht ad absurdum, in: Informationen Grundrechte Komitee 02/2021.

6Vgl. Herbert Böttcher (2020): Zur Diskussion um Corona, https://www.oekumenisches-netz.de/2020/05/zur-diskussion-um-corona/.

7Vgl. Herbert Böttcher u. Leni Wissen, Zwischen Selbstbezüglichkeit und Solidarität? Corona in der Leere des Kapitalismus, in: exit! u. Ökumenisches Netz, Netztelegramm, Februar 2021, vor allem S. 3 ff., https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2021/02/Netztelegramm-1.21_Sonderausgabe-mit-exit.pdf.

8Robert Kurz, zitiert nach Roswitha Scholz s. Anm. 3, 50.

9Alex Demirović, Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Zur Kritik des Aufrufs ZeroCovid. https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-Forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/, 2021.

10Kölner Stadt-Anzeiger vom 11.11.21.

11Kölner Stadt-Anzeiger vom 23.11.21.

12 Vgl. Franz C. Mayer, Besser Gesetze nicht ändern als schlecht ändern, https://verfassungsblog.de/besser-gesetze-nicht-andern-als-schlecht-andern/ (12.11.21).

13 Zur noch längeren Liste vgl. ebd.

14Ebd.

15Landeszentrum für Gesundheit, zit. nach WDR: https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/corona-daten-nrw-100.html (18.11.21).

16Kölner Stadt-Anzeiger vom 18.11.2021.

17Ebd.

18Vgl. Oliver Nachtwey, Nadine Frei, Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, https://boell-bw.de/de/2021/11/04/zusammenfassung-der-studie.

19 Christian Drosten warnte bereits im Mai, dass alle Ungeimpften und auch etliche Geimpfte (wenn auch bei Letzteren größtenteils ohne Folge) sich infizieren würden (vgl. n-tv.de vom 11.5.21, https://www.n-tv.de/panorama/Drosten-Ungeimpfte-werden-sich-infizieren-article22549310.html).

21Vgl. Herbert Böttcher, „Irgendetwas geht seinen Gang. Oder Der Abpfiff, den niemand hören will. Offener Brief an die Interessenten und Interessentinnen von exit! Zum Jahreswechsel 2028/19, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 16/2019, 23 – 29.