Vom Zerfall des ‚autonomen Subjekts‘

Unter der Überschrift

Virus überfordert die Menschen. Das Unwissen und die Komplexität der Verbote befördern Verschwörungsphantasien“

war im ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ vom 8.5.2020 zu lesen:

„Ein lauer Abend an einem deutschen Kleinstadt-Bahnhof. Ein paar junge Männer begrüßen sich, erst angedeutet mit dem Ellenbogen, dann grinsen sie breit, klatschen sich ab und umarmen sich. Männlichkeitsrituale als Widerstandsgeste. Dann lästern sie über den Charité-Virologen Christian Drosten. ‚Hoffentlich erwischt es den bald‘, sagt einer. Die anderen grinsen. Drosten erhält Morddrohungen, wird für Pleiten, persönliches Leid und Überdruss verantwortlich gemacht. Die Wissenschaft ist für einige – neben der Politik – zur Wurzel allen Übels geworden.“

Oder anders ausgedrückt:

Vom Zerfall des ‚autonomen Subjekts’

Das ‚autonome Subjekt‘ hält die mit Corona verbundenen Einschränkungen der kapitalistischen Normalität nicht aus. Bei dieser Feststellung ist gar nicht in Abrede gestellt, dass Corona eine Zumutung ist für Alte und Kranke, vor allem für Sterbende, für das schlecht bezahlte und überforderte Pflegepersonal, für Kinder und Jugendliche samt deren Eltern, für das Personal in Kitas, Schulen und Supermärkten, die Wanderarbeiter_innen in Fleischindustrie und Landwirtschaft, die Inhaftierten und Abschiebehäftlinge, die Wohnungslose und Asylsuchenden, die Geflüchteten in den Lagern… Sie, die in der Normalität des Krisenkapitalismus diejenigen sind, die unter Nicht-Beachtung und Ausgrenzung zu leiden haben, trifft es umso mehr in der Corona-Situation. Sie trifft also nicht alle gleich, sondern – wie im Normalzustand – zuerst Menschen ohne oder mit geringem Einkommen, Familien, die unter beengten Wohnverhältnissen leben, prekär Beschäftigte, Kleinselbständige…

Es fällt auf, dass sie nur begrenzt oder gar nicht im Blick der Debatten und Demonstrationen stehen. Im Vordergrund steht das ‚autonome‘ Otto-Normalsubjekt des kapitalistischen Normalzustandes. Zu seinem Anwalt machen sich vor allem die Liberalen aus CDU und FDP. Sie sorgen sich darum, dass dieses Subjekt die mit Corona verbundenen Zumutungen nicht mehr aushält. Es klagt ja auch seine Grundrechte und Freiheiten lautstark und zuweilen drastisch ein und macht dabei deutlich, wem sie im Kapitalismus gehören.

Das ‚autonome Subjekt‘ – als Handlungsträger der ‚abstrakten Arbeit‘ – stößt ja schon im Normalzustand der Krise auf seine Grenzen, weil seine Freiheit und seine autonomen Entscheidungen an die Verausgabung der in der Krise wegbrechenden Arbeit gebunden sind. Die Versprechen auf Selbstverwirklichung können nicht eingelöst werden. Und wer im Konkurrenzkampf um die schwindenden Möglichkeiten nicht aufgeben will, muss sich in Wahrnehmung mündiger Eigenverantwortung anpassen und zu einem permanent konkurrierenden ‚unternehmerischen Selbst‘ werden – mit schwindenden Aussichten auf Erfolg und steigendem Stress. Das ‚autonome Subjekt‘ läuft ins Leere und dreht durch – bis hin zu Amok und Selbstvernichtung. Hier zeigt sich die letzte Konsequenz dessen, was im ‚männlichen autonomen Subjekt‘ steckt. Unter dem Zwang sich selbst zu setzen, es aber angesichts der Verhältnisse nicht zu können, treibt es in Vernichtung als letztem Akt verzweifelter Selbstsetzung.

Mit Corona verschärfen sich auch all die Probleme, die mit der Konstitution des Subjekts verbunden sind. Sein Ende wird drastisch vor Augen geführt. Es hält die Einschränkungen nicht aus und drängt zurück zur als Freiheit gefeierten Unterwerfung unter den kapitalistischen Normalzustand. Dessen Unterhaltungs- und Eventindustrie versprechen immerhin entlastende Vergnügungen. Auch zu diesem Zweck muss der stotternde Motor kapitalistischer Verwertung wieder angeworfen werden.

Zum Angriff freigegeben ist alles, was dem Drang nach Normalität entgegen steht. Dazu gehören Wissenschaft und Wissenschaftler_innen. In der sich auch bei Politikern ausagierenden Wissenschaftsfeindlichkeit zeigt sich besonders drastisch die zur Normalität des Kapitalismus gehörende Theorie- und Reflexionsfeindlichkeit. Es zählt das, was in ‚falscher Unmittelbarkeit‘ den Ausbruch aus dem Corona-Gefängnis legitimiert. Das ‚autonome Subjekt‘, das nur im Rahmen der reflexionslos vorausgesetzten kapitalistischen Normalität denken und handeln kann, stellt lieber die Reflexion ein, als das Ende der kapitalistischen Verhältnisse und damit sein eigenes Ende zu begreifen. Das Begreifen der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit des Zusammenhangs zwischen dem Corona-Gefängnis und dem Gefängnis der kapitalistischen Normalität scheint zu komplex, vor allem aber für den Drang nach Ausbruch nicht zielführend. Als Erleichterung bieten sich Verschwörunsideologien an – die dank Kardinal Müller & Freunden ja auch im Vatikan trotz Papst Franziskus hoffähig sind. Mit ihnen können die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse und Interessen legitimiert werden – ob Freiheit für kirchliche Macht- und Prachtentfaltung, Freiheit für ‚das Volk‘ als völkisch-nationalistischer Wahn oder Freiheit zur Wahrnehmung der Angebote der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie.

Wer Lockerungen hintertreibt, wird zum Feind der Freiheit, zum/zur theoretischen Bedenkenträger_in und wissenschaftlichen Verhinderer_in. Vor allem aber lassen sich negative Erfahrungen identifizierbaren Täter_innen zuschreiben. Wer gegen sie diffamierend, drohend oder auch handgreiflich vorgeht, braucht nicht ohnmächtig zu bleiben, sondern kann seine männliche Macht- und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.

Was bleibt, ist männliche konnotierte Selbstsetzung – klerikal wie profan. Darin werden Rollen und Bewertungen verschoben. Stark ist, wer lockert, schwach, wer zaudert. Mutig ist, wer sich den Gefahren stellt. Ängstlich und zugleich unsolidarisch sind diejenigen, die angesichts der diffusen Lockerungen um ihre Gesundheit besorgt sind. Das letzte ‚Wort zum Sonntag‘ kommt in Anne Wills Runde aus der FDP: Wer Angst hat, solle zu Hause bleiben, so Kubicki. Diesem liberalen Ratschlag sollten Wanderarbeiter_innen, Pflegekräfte, Kita- und Schulpersonal mal folgen – und dabei die zur Verwirklichung liberaler Ratschläge nötigen sozialen Sicherheiten bei der FDP einklagen. Fragt sich jetzt nur noch, ob Kardinal Müller den Rat, zu Hause zu bleiben, mit der Erfüllung der Sonntagspflicht in Einklang bringen kann…

Herbert Böttcher