Die Auferweckung des Lazarus – Predigt zum 5. Fastensonntag 2023 (Lesejahr A)

Zu Johannes 11,1-53

Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus ist die letzte Zeichenhandlung Jesu, die im Johannes-Evangelium erzählt wird. Sie ist gleichzeitig diejenige, die alle anderen zusammenfasst und die größte Wirkung erzielt: Viele kommen zum Glauben“, heißt es in unserem Text.

Wer dieses Wunder einfach als historische Totenauferweckung interpretiert, könnte am Kern der Erzählung vorbeigehen. Bevor sich das Johannes-Evangelium ab dem 12. Kapitel ganz auf das Geschehen um Jesu Tod konzentriert, macht Johannes noch einmal deutlich, dass die Lebensmacht Gottes, die sich in Jesu Tod und Auferstehung gezeigt hat, bereits im Leben Jesu zur Geltung kommt. Vor dem Hintergrund des Glaubens an die Auferweckung des Gekreuzigten kann Johannes Jesus als Macht des Lebens deuten, vor dem weder das „Gesetz“, das ausgrenzt und tötet, noch der physische Tod Bestand hat. Die Macht der Auferstehung bricht schon in das geschichtliche Leben ein.

So verbindet Johannes mit Jesus die Hoffnung, dass weder die scheinbar alternativlos herrschenden Gesetze der Geschichte, nach denen die einen arm und die anderen reich, die einen ohnmächtig und die anderen mächtig sind, noch die Gesetze der Natur, nach denen der Mensch nun einmal sterblich ist, alternativlos gelten. In Jesus zeigt sich Gottes schöpferische Macht des Lebens, die fähig ist zur Neuschöpfung. Dieser Glaube wird in der Geschichte, im Leben der Menschen lebendig, die im Glauben bekennen: Gott zeigt seine Herrlichkeit im Kreuz und in der Auferweckung des von Rom hingerichteten Messias. Diese Lebensmacht Gottes bricht mitten hinein, in eine Weltordnung, die mit dem Tod regiert. Und überall da, wo Menschen dem Tod wieder stehen wird Gott verherrlicht – so auch in der Auferweckung des Lazarus.

Damit verändert sich das Verhältnis zur Zeit. Sie ist eine gleichförmig dahinfließende leere Zeit. Sie kann unterbrochen und gesprengt werden. So kann jede Sekunde die kleine Pforte sein, durch die der Messias treten kann. In der Unterbrechung der Zeit kann neues, anderes Leben möglich werden. So formuliert es der jüdische Philosoph Walter Benjamin. Darin kommt jüdisches Denken zum Ausdruck. Es kann sich mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden geben, sondern erwartet eine andere. Darin ist auch christliches Denken verwurzelt: In dieser Welt, mitten im Leben, erwarten wir einen neuen Himmel, eine neue Erde. Und der Grund für diese Sicht ist das Eingedenken der vergangenen Zeit. Die Tora und das Gebet unterweisen im Eingedenken.

Wenn wir miteinander Eucharistie feiern, erinnern wir uns des Lebens Jesu, seines Todes und seiner Auferstehung. Das steht gegen jeden Mythos und und gegen jeden Schicksalskult wie sie uns mit Esoterik aufgeladen in sog. niederschwelligen Gottesdiensten, in religiös-spirituellen Riten, die den Einklang mit sich selbst und mit der Natur suchen, begegnen. Eingedenken verbindet sich vielmehr mit apokalyptischem Denken – und das in einem doppelten Sinn: Zum einen in dem Sprengen von Herrschaft und Fesseln in der konkreten Geschichte. In unserem Evangelium wird Lazarus von den Fesseln des Todes befreit. In seiner Person wird das von Rom gefesselte Israel sichtbar. Das macht die Geschichte von seiner Auferweckung für Rom so bedrohlich. Zum anderen greift die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus voraus auf die Auferweckung der Toten, auf die Opfer von Herrschaft zuerst und dann auch auch die Auferweckung aller Toten. Auferweckung der Toten, das sprengt die geschlossene Immanenz der Geschichte, in der die Opfer und alle Toten für immer tot bleiben, in der die Sieger Sieger und die Besiegten Besiegte bleiben und alles im leeren Fluss der Zeit so weitergeht. Zu solch sprengender Hoffnung führt das Eingedenken, die Erinnerung an das Leid, an all der Opfer in der Geschichte, in der Gegenwart wie der Vergangenheit. Das konstituiert „Universalität“, eine Einheit der Geschichte, an der auch das Unterlegene und die Besiegten Anteil haben. Das treibt zum Eingedenken Gottes und seines Messias und umgekehrt: das Eingedenken Gottes treibt an die Seite der Opfer in Gegenwart und Geschichte.

Der Theologe Johann Baptist Metz sagt: die kürzeste Definition von Religion sei ‚Unterbrechung‘ jedenfalls von messianischer Religion wäre zu verdeutlichen. Dies bedeutet die Unterbrechung des Immer-Gleichen, in dem die einen oben und die anderen unten, die einen überlegen und die anderen unterlegen bleiben. Dafür dass dieser Fluss des Gleichen nicht ewig dahin fließt, steht messianische Religion.

In diesem Sinne bekennen wir:Jesus Christus ist der Erlöser und Retter. Er sprengt alle Enge und alle Abhängigkeiten auf. Das ist ‚ewiges‘ Leben, das Leben in einer neuen Zeit.

Johannes erzählt aber auch von den Folgen, die der Einbruch „des ewigen Lebens“ mitten hinein in der Welt des Todes hat. Es kommt zu Polarisierungen. Die einen werden zu Anhängern des Messias Jesus, die anderen rufen nach dem Gesetz Roms. Wenn viele dem Messias Jesus vertrauen, werden die Römer kommen und eingreifen. Genau das ist die Sorge der jüdischen Obrigkeit, die zusammen mit der römischen Besatzungsmacht den Tod Jesu betreibt. Wenn messianische Bewegungen, die auch vor der Ordnung Roms und ihren Gesetzen nicht Halt machen, um sich greifen, ist die Herrschaft gefährdet und die römische Besatzungsmacht greift ein.

Johannes schreibt aus einer Perspektive, aus der heraus genau das mit der Zerstörung des Tempels und dem römischen Krieg gegen die Juden geschehen ist. Er lebt in einer Situation, in der die Leitung der Synagoge sich aus Angst vor Rom und in Sorge um das Fortbestehen des jüdischen Glaubens von den messianischen Juden (Christen) distanziert und bereit erscheint, sie im Zweifelsfall den Römern auszuliefern wie ja auch Jesus mit dem Hinweis auf das Gesetz ausgeliefert wurde. Genau dagegen, dass Menschen den geschichtlichen und natürlichen Gesetzen geopfert werden, ist Jesus aufgestanden. Und so muss Jesus für seinen Aufstand für das Leben sterben. Weil aber das ewige Leben in seinem Aufstand für das Leben bereits gegenwärtig ist, wird sein Tod zu seiner und Gottes Verherrlichung, die in der Auferweckung des Gekreuzigten sichtbar wird.

Paul Freialdenhoven, Kapelle des Heinrichhauses in Neuwied-Engers (25.3.23)