Hauptsache Kapitalismus! Egal, ob diktatorisch oder liberal

In der Ukraine werden die westlichen Werte verteidigt. So heißt es. Übergangen wird eine Gemeinsamkeit des Westens mit Putin: die Bewunderung für den chilenischen Diktator Pinochet. Er hat sich vor 50 Jahren mit Unterstürzung der USA an die Macht geputscht. Unter ihm wurde das erste Projekt des Neoliberalismus durchgesetzt. Theologen der Befreiung hatten es mit der Formel kritisiert: ‚Sozialstaat versklavt, Polizeistaat macht frei‘. Dass die Freiheit des Marktes durch ein folterndes und tötendes Regime durchgesetzt wurde, störte den Westen nicht. Im Gegenteil, es wurde applaudiert.

So taten es auch deutsche Wirtschaftsvertreter und der stellvertretende deutsche Generalkonsul, als Putin 1993 eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild als Lösung für Russlands Probleme empfahl. Derweil hatte Präsident Jelzin bereits westliche Berater ins Land geholt, um das Land auf die Höhe des neoliberalen Kapitalismus zu bringen. Die Verarmung ließ nicht lange auf sich warten und die Diktatur auch nicht: Schon Jelzin setzte die Verfassung außer Kraft und entmachtete ein ‚unwilliges‘ Parlament. So war Putins Weg zur diktatorischen Stabilisierung des Kapitalismus vorgezeichnet.

Hauptsache Kapitalismus. Ob diktatorisch oder liberal, interessiert nur, wenn die Macht des Westens in Frage gestellt ist. Selbstkritik wäre angebracht statt sich selbst mit einem Kampf des Guten gegen das Böse, von Freiheit gegen Diktatur zu belügen. Die Krisen spitzen sich auf allen Ebenen zu. Der Kapitalismus droht ‚aus dem Ruder zu laufen‘. Ein Amoklauf der Vernichtung als letzte ‚Waffe‘ eines im Wahnsinn durchdrehenden Systems könnte sich nahe legen.

Herbert Böttcher, Pastoralreferent i.R.

Zuerst veröffentlicht in: „Am Wochenende“ („Gedanken zum Wochenende“), 11./12.06.2022