Zum 3. Advent: „… die Stricke des Jochs zu entfernen…“ (Jes 58,6)

Jes 58,1-12

1 Rufe aus voller Kehle, halte dich nicht zurück! / Erhebe deine Stimme wie ein Widderhorn! Halt meinem Volk seine Vergehen vor / und dem Haus Jakob seine Sünden! 2 Sie suchen mich Tag für Tag / und haben daran Gefallen, meine Wege zu erkennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt / und vom Recht ihres Gottes nicht ablässt, so fordern sie von mir gerechte Entscheide / und haben an Gottes Nähe Gefallen. 3 Warum fasten wir und du siehst es nicht? / Warum haben wir uns gedemütigt und du weißt es nicht? Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte / und alle eure Arbeiter treibt ihr an. 4 Seht, ihr fastet und es gibt Streit und Zank / und ihr schlagt zu mit roher Gewalt. So wie ihr jetzt fastet, / verschafft ihr eurer Stimme droben kein Gehör. 5 Ist das ein Fasten, wie ich es wünsche, / ein Tag, an dem sich der Mensch demütigt: wenn man den Kopf hängen lässt wie eine Binse, / wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten / und einen Tag, der dem HERRN gefällt? 6 Ist nicht das ein Fasten, wie ich es wünsche: / die Fesseln des Unrechts zu lösen, / die Stricke des Jochs zu entfernen, Unterdrückte freizulassen, / jedes Joch zu zerbrechen? 7 Bedeutet es nicht, dem Hungrigen dein Brot zu brechen, / obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden / und dich deiner Verwandtschaft nicht zu entziehen? 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot / und deine Heilung wird schnell gedeihen. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, / die Herrlichkeit des HERRN folgt dir nach. 9 Wenn du dann rufst, / wird der HERR dir Antwort geben, und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: / Hier bin ich. Wenn du Unterjochung aus deiner Mitte entfernst, / auf keinen mit dem Finger zeigst und niemandem übel nachredest, 10 den Hungrigen stärkst / und den Gebeugten satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf / und deine Finsternis wird hell wie der Mittag. 11 Der HERR wird dich immer führen, / auch im dürren Land macht er dich satt / und stärkt deine Glieder. Du gleichst einem bewässerten Garten, / einer Quelle, deren Wasser nicht trügt. 12 Die Deinen bauen uralte Trümmerstätten wieder auf, / die Grundmauern vergangener Generationen stellst du wieder her. Man nennt dich Maurer, / der Risse schließt, / der Pfade zum Bleiben wiederherstellt.

Enttäuschte Erwartungen

Unser Text ist hinein gesprochen in eine Zeit enttäuschter Erwartungen. Die aus dem babylonischen Exil Heimgekehrten erwarteten einen neuen Anfang für Israel. Er fand seinen Ausdruck in dem rasch begonnenen Neubau des Tempels. Der wiederum sollte begleitet sein durch eine Rückbesinnung, durch eine intensivierte Praxis der Frömmigkeit. Dies spiegelt sich auch in unserem Text wieder: „Sie rufen mich Tag für Tag und haben daran Gefallen, meine Wege zu erkennen“ (V. 2). Zu dieser Praxis gehörten auch das Fasten und Fastentage. Aber auch das konnte die Erwartungen eines neuen Anfangs nicht erfüllen. Und so stellt sich die Frage: „Warum fasten wir und du siehst es nicht? Warum haben wir uns gedemütigt und du weißt es nicht?“ (V. 3)

Die enttäuschten Erwartungen haben zum einen ihren Grund darin, dass es mit dem Neubau des Tempels nicht vorangeht. Diese Enttäuschung wird von den Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi thematisiert. Tritojesaja, also der dritte Jesaja, greift gegen eine Frömmigkeit, die sich um soziale Belange nicht kümmert, die soziale Situation auf. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die sozialen Spaltungen aus der Königszeit weiter wirkten. Zudem wirkte sich die rigorose Steuerpolitik der Perser aus, die zwar religionspolitisch tolerant, wirtschaftlich aber repressiv agierten1. Im Unterschied zu jenen Propheten, die den Neubau des Tempels vorantrieben, sah Tritojesaja die desolate Lage Israels nicht in der Vernachlässigung des Tempelbaus und der Frömmigkeit begründet, sondern in der noch immer nicht überwundenen, sondern sogar noch verschärften sozialen Spaltung. Er rückt „das Schicksal von Menschen“ in den Mittelpunkt, „die bitteren Hunger litten, die ohne Obdach waren und schließlich, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, von ihren Gläubigern gewaltsam ergriffen und versklavt wurden, ohne dass sich jemand ihrer annahm“2.

Befreiung als Antwort

„Rufe aus voller Kehle, halte dich nicht zurück! Erhebe deine Stimme wie ein Widderhorn!“ So wird der Auftrag eingeleitet, der von Gott an Tritojesaja ergeht. Das Widderhorn konnte ertönen, um das Volk zum Krieg zu sammeln. Es ertönte aber auch am Versöhnungstag und zum Jobeljahr, um zu einer Umkehr zu rufen, die mit Schuldenerlass, Befreiung von Sklaven und einer Neuverteilung des Landes zugunsten der Armen verbunden sein sollte (Lev 25). In dieser Tradition heißt es für den dritten Jesaja: „Rufe aus voller Kehle…“ (V. 1). Es soll darum gehen, „die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, Unterdrückte freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen“ (V. 6). Die dann folgenden sozialen Imperative, „dem Hungrigen dein Brot zu brechen, obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden…“ (V. 7) stehen im Horizont der geforderten Befreiung. Nur unter der Perspektive der von Gott geschenkten Befreiung hat das Volk eine Zukunft. Unter dieser Perspektive ist alles soziale Handeln zu sehen.

Soziales Handeln darf also nicht zum Ersatz für die verweigerte Befreiung werden, daran wären auch die heutigen Kirchen ebenso zu erinnern wie daran, dass das Ausweichen in traditionalistische wie in esoterische Spiritualität keine Antwort auf die heutigen katastrophischen Krisen sein kann. Daran Heilserwartungen zu knüpfen, wäre so falsch wie die Erwartungen vor allem des ‚frommen‘ Teils der Oberschicht an die Fastentage zur Zeit des dritten Jesaja. Sie waren eine ‚rein‘ religiöse Übung, die nicht zu einer Irritation über die alltägliche Praxis und schon gar nicht zur Unterbrechung der „Geschäfte“ und „roher Gewalt“ (V. 3) gegen die Armen führten. Wenn heute ‚Glaube und Leben‘ verbunden werden sollen, dann darf das nicht so geschehen, dass der in kapitalistischer Normalität gelebte (post-)bürgerliche Alltag umstandslos durch den Glauben abgesegnet wird oder gar die kapitalistische Normativität zur Norm einer Verkündigung gemacht wird, in der ‚Glaube und Leben‘ miteinander verbunden werden. Mit Tritojesaja wäre da zu konstatieren: So „verschafft ihr eurer Stimme droben kein Gehör“ (V. 4). ‚Glaube und Leben‘ können nur so miteinander verbunden werden, dass das in den biblischen Traditionen verwurzelte Gottesgedächtnis mit der Befreiung aus Sklaverei, aus Unrecht und Gewalt zur Geltung gebracht wird. Mit dem Rücken zu den Opfern mag es zwar traditionalistischen Ritualismus oder esoterische Erbauung geben, aber mit dem Gott der Bibel hat das nichts zu tun.

„… den Gefangenen Freilassung auszurufen“ (Jes 61,1)

So formuliert Tritojesaja seine Sendung in Kapitel 61. In den Bildern dieses Kapitels verschafft er der Verheißung Ausdruck, die mit der Befreiung verbunden ist, die er in Kapitel 58 gefordert hat. Trauer wird in Freude verwandelt (61,2f), „verödete Städte“ und die „Ruinen vergangener Generationen werden wieder aufgebaut“ (61,4). Damit das geschehen kann, ist er als Prophet „gesalbt“ und „gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu bringen, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen und den Gefesselten Befreiung, um ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, einen Tag der Vergeltung für unseren Gott…“ (61,1f).

Der „Tag der Vergeltung“, den das (post-)bürgerliche Christentum in antijudaistischer Manier schnell mit dem Hinweis entsorgen will, hier gehe es um um den alttestamentlichen „Gott der Rache“, übersieht, dass jener „Tag der Vergeltung“ der Tag ist, an dem Gott sein rettendes Wort für die Opfer spricht, das zugleich ein Wort des Gerichts über die Verhältnisse ist, unter denen sie gelitten haben und zu Tode gekommen sind. Die kapitalistische Normalität kann nicht die Norm bleiben, wenn für die „Gefangenen Freilassung“ ausgerufen wird. Im Gegenteil, damit ist ihr Ende ausgerufen. Wie sehr dies kapitalistische ‚Normalos‘ in Angst und Schrecken versetzt, zeigt ja bereits die befristete Unterbrechung der ‚Normalität‘ in der Corona-Pandemie.

Mit dem Ausrufen der Freilassung aus Unrecht und Gewalt, aus Herrschafts- und Fetischverhältnissen steht und fällt der Glaube. Daran entscheidet sich die Frage, ob an Israels und Jesu Gott oder an ein nach außen verriegeltes Heil im Innern der Seele oder an ein inhaltsleeres ‚höheres Wesen‘ geglaubt wird. Die Botschaft der Freilassung verbindet die prophetische Kritik aus Jes 58 mit der Verheißung aus Jes 61, den „Tag der Vergeltung“ mit dem „Gnadenjahr des HERRN“ (Jes 61,2). Darin sind sie mit dem Erlassjahr, dem Jobeljahr aus Lev 25, verbunden, dessen Ausrufen eingeleitet wird mit dem Imperativ: „Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus!“ (Lev 25,5). Wie problematisch die Übersetzung des hebräischen Befgriffs ‚deror‘ mit ‚Freiheit‘ ist, zeigt die Inanspruchnahme dieses Begriffs für eine sozialdarwinistische Politik der Durchseuchung mit dem Corona-Virus. Solcher Freiheit werden – wie in der kapitalistischen Normalität üblich – diejenigen geopfert, die in der kapitalistischen Gesellschaft als Leistungsschwache und aus dem Rennen Geworfene überflüssig sind. In den biblischen Zusammenhängen geht es aber um ‚Freilassung‘, um Befreiung aus Gewaltverhältnissen, und damit genau nicht um eine Freiheit, die denen vorbehalten ist, die es schaffen, im ‚Kampf ums Dasein‘ zu den Gewinnern zu gehören.

„Freilassung“ und zwar für die „Armen, für die Gefangenen und Zerschlagenen“ ist nach dem Evangelium des Lukas die Überschrift über die Sendung Jesu (Lk 4,16ff). Dass von solcher Freilassung die ‚äußeren Gewaltverhältnisse‘ nicht nur nicht angetastet, sondern ‚revolutioniert‘ werden, macht der adventliche Lobgesang der Maria deutlich, in dem das zum Ausdruck kommt, was von Israels Gott und seinem Messias zu ‚erwarten‘ ist: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1,52f).

Wenn du die Unterjochung aus deiner Mitte entfernst…“ (58,9)

Was von Israels Gott ‚zu erwarten‘ ist, bleibt nicht auf eine eschatologische Erwartung beschränkt. Sie provoziert Wachsamkeit für Gottes Spuren inmitten der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. Diese werden hörbar in einer Kritik der Verhältnisse, die auf Befreiung besteht sowie in einem Handeln, dass wenigstens im Fragment den Armen Gerechtigkeit widerfahren lässt und auf den Bruch mit den kapitalistischen Gewaltverhältnissen aus ist. Wo das geschieht, „geht im Dunkeln ein Licht auf“, und Menschen, die in diesem Horizont denken und handeln, gleichen „einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser nicht trügt“ (58,10).

Mit dem Licht ist das Werk des ersten Schöpfungstages aufgegriffen, die Scheidung von Finsternis und Licht (Gen 1,3). Die Schöpfung ist auf das Licht ausgerichtet und in der neuen Schöpfung, dem neuen Jerusalem, braucht es nicht mehr das Licht von Sonne, Mond und Sternen; „denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offb 21,23). Israels Gott der Befreiung und der Messias als das im Widerstand gegen römische Machtverhältnisse geschlachtete, von Gott aber auferweckte Lamm sind zu endgültigen Orientierungen in einer befreiten Welt geworden. Wer jetzt schon Gottes Wegen der Befreiung folgt, gleicht „einem bewässerten Garten“. Er lebt von dem Strom, der in Eden entspringt und „der den Garten bewässert“ (Gen 2,10), den Gott als Paradies angelegt hat (Gen 2,6ff). Weil er „Gefallen hat an der Weisung des Herrn“ (Ps 1,2), „ist er wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken“ (Ps 1,3).

Herbert Böttcher

1Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels, Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, Göttingen 1992, 474ff.

2Willy Schottroff, Arbeit und sozialer Konflikt im nachexilischen Juda, in: Luise Schottroff / Willy Schottroff (Hg.), Mitarbeiter der Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt, München 1983, 104 – 148, 140.