„Halte mich nicht fest… Geh aber zu meinen Brüdern…“ (Joh 20,17) – Ostern 2021

Joh 20,1-31

1 Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. 2 Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. 3 Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; 4 sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab. 5 Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging jedoch nicht hinein. 6 Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen 7 und das Schweißtuch, das auf dem Haupt Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. 8 Da ging auch der andere Jünger, der als Erster an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte. 9 Denn sie hatten noch nicht die Schrift verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsse. 10 Dann kehrten die Jünger wieder nach Hause zurück.

11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein. 12 Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten. 13 Diese sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie antwortete ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben. 14 Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. 15 Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast! Dann will ich ihn holen. 16 Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister. 17 Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.

19 Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. 21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 22 Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! 23 Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

24 Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. 26 Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! 27 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

30 Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. 31 Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.

Am Schluss seines Evangeliums erzählt Johannes die Botschaft von der Auferweckung des gekreuzigten Messias (20,1-31) in vier Geschichten und beendet das Evangelium mit einem Schlusswort. Erzählt wird, wie auf eine Nachricht Maria Magdalenas hin der ‚Lieblingsjünger‘ und Petrus schnell zum Grab laufen (1-10). Es folgt Maria Magdalenas Begegnung mit dem Auferweckten und ihr Auftrag, den JüngerInnen eine Botschaft des Auferweckten zu überbringen (11-18). Nach einer Woche begegnet der Auferweckte den hinter verschlossenen Türen versammelten JüngerInnen und sendet sie in der Kraft des Geistes (19-23). Danach erzählt Johannes von der Begegnung mit Thomas (24-29) und schließt das Evangelium ab (30f). In dieser ‚Dramatisierung‘ der Botschaft von der Auferweckung des gekreuzigten Messias wird erkennbar, wie sich Glaube gegen Un-Glaube bzw. Vertrauen gegen Misstrauen durchkämpft. Die Osterbotschaft bracht offenbar Zeit, bis die JüngerInnen ihr trauen. Darin spiegelt sich das Ringen der messianischen Gemeinde um das Vertrauen in die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten. Seine Erzählung beginnt Johannes aber mit einem Paukenschlag:

Am ersten Tag der Woche…“ (20,1)

Nach dem Rüsttag, an dem Jesus ins Grab gelegt worden war (19,42), beginnt ein neuer Tag. „Die Ausdrucksweise im griechischen Text ist ganz und gar vom hebräisch-aramäischen Sprachgebrauch geprägt. Sie entspricht der Wendung: „am (Tag) eins des Schabbat“, bemerkt Klaus Wengst in einer Anmerkung1, ohne jedoch auf die Bedeutung dieser Formulierung einzugehen. Sie wird erkennbar, wenn sie in Bezug zum Anfang des Evangeliums (1,1-5) und damit zum Anfang der Bibel mit Gen 1,1ff gestellt wird2. Johannes beginnt sein Evangelium mit: „Im Anfang war das Wort…“ (1,1). Damit greift er den Anfang der Bibel auf, die mit den Worten beginnt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“ (Gen 1,1) – und zwar durch sein Wort wie der Text immer wieder hervorhebt3. Zum Abschluss des ersten Tages heißt es: „Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag“ (Gen 1,5). In dieser Übersetzung bleibt unberücksichtigt, dass sowohl die hebräische Bibel wie auch ihre griechische Übersetzung, die Septuaginta, an dieser Stelle vom „Tag eins“ sprechen, während sie erst ab dem „zweiten Tag“ die Ordnungszahlen – also zweiter, dritter Tag etc. – benutzen. Dem entspricht die Formulierung bei Johannes. Im Blick auf den Tag der Auferweckung Jesu spricht er vom „Tag eins“.

Der „Tag eins“ in Gen 1,5 ist nicht einfach der ‚erste‘ Tag in einer Reihe von weiteren Tagen, die folgen, sondern ein alle anderen Tage grundlegender Tag, die „Voraussetzung für alle kommenden Tage“4. Dem entspricht für die messianische Gemeinde der „Tag eins“, mit dem Johannes seine Erzählungen von der Auferweckung des Gekreuzigten beginnt. „Wie der Tag der Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis alle kommenden Unterscheidungen zwischen Himmel/Erde, Meer/Trockenes normiert, so normiert der Tag eins der Schabbatwoche das ganze Leben aller Schüler Jeschuas.“5

Zugleich greift Johannes über die messianische Gemeinde hinaus. Mit der Auferweckung des Gekreuzigten hat Gott die Weltordnung gerichtet (vgl. z.B. Joh 12,31; 16,8ff) und es beginnt eine neue Welt. Paulus nennt sie „eine neue Schöpfung“ (1 Kor 2,17ff). Die Offenbarung des Johannes spricht – den dritten Jesaja aufgreifend (Jes 65,17ff) – von einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“ (Offb 21,1). Die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten lässt sich also weder auf den Auferweckten noch auf diejenigen, die ihm ‚vertrauen‘ oder auch – in bürgerlicher Variante – auf Vorstellungen von einem ‚Weiterleben‘ nach dem Tod im Kreis der eigenen ‚Lieben‘ reduzieren. Bei der Auferweckung des Gekreuzigten geht es nicht einmal nur um Jesus ‚selbst‘, sondern um die Rettung aller Gekreuzigter und darin um die „Rettung der Welt“ (Joh 4,42). Weil in der Auferweckung des Gekreuzigten das Gewicht der Befreiung zur Geltung kommt, die Inhalt des Namens Gottes ist, zielt sie auf ‚das Ganze‘. Was in ihr Wirklichkeit geworden ist, soll für alle und die ‚ganze‘ Schöpfung Wirklichkeit werden. Deshalb läuft die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten auf Sendung der JüngerInnen in die Welt(ordnung) (Joh 20,21) zu.

Aber soweit ist Johannes in seiner Erzählung noch nicht. Es war „noch dunkel“ (V. 1), als Maria von Magdala zum Grab kam. Darin unterscheidet sich Johannes von Markus, nach dem die Frauen „in aller Frühe zum Grab“ kamen, „als eben die Sonne aufging“ (16,2). Für Johannes ist, obwohl der ‚Tag eins‘ angebrochen ist, noch kein Licht ‚in Sicht‘. Er hat die Trauer der JüngerInnen angesichts des Abschieds des Messias (16,20ff, vgl. auch die weinende Maria in 20,11ff) im Blick. Maria sieht vorerst nur, „dass der Stein vom Grab weggenommen war“ (V. 1). Das aber löst keine Osterfreude, sondern Schrecken aus. Sie ‚glaubt‘, dass der Leichnam weggeschafft worden ist, so dass ihre Trauer nicht einmal mehr an Jesu Grab einen Ort hat. Der Schrecken macht ihr Beine:

Da lief sie schnell…“ (V. 2)

Sie läuft zu Petrus und dem ‚Lieblingsjünger‘ – nicht mit der Osterbotschaft, sondern mit der Nachricht: „Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen…“ Jetzt wissen sie nicht, wohin er gekommen ist. Auch hier dürfte sich noch einmal die Situation der Abschiedsreden widerspiegeln. Die JüngerInnen tun sich schwer mit dem Abschied. Sie wollen den Messias ‚fest halten‘. Sie sind unsicher und verwirrt, weil sie seinen Weg nicht kennen. Sie wissen nicht, wohin er geht, wenn er davon spricht, dass er zum Vater gehe (16,1ff). Dennoch deutet sich ein kleiner Lichtblick an, wenn Maria von „dem Herrn“ spricht, „den sie aus dem Grab weggenommen“ haben. Was das bedeutet, wird erst mit dem Bekenntnis des Thomas („Mein Herr und mein Gott“, 20.28) deutlich werden. Der Glaube, das Vertrauen, entsteht auf einem Weg zwischen Missverstehen und Verstehen, zwischen Zweifel und Glaube/Vertrauen.

Ein ‚Wettlauf‘ zum Grab (20,2-10)

a) „… sie liefen beide zum Grab, aber weil der andere Jünger schneller war…“ (V. 4)

Marias Mitteilung löst ein ‚Wettrennen‘ zum Grab aus. Dann verschwindet Maria zunächst aus der Szene, während die beiden Jünger zum Grab rennen. Auch sie nehmen an, Jesu Leichnam sei aus dem Grab „weggenommen“ (V. 1) und geraubt worden. Der „andere Jünger“ ist schneller als Petrus und als Erster am Grab. „Er beugt sich vor und sah die Leinenbinden liegen…“ (V. 5). Für ihn dürfte das ein ‚Indiz‘ dafür sein, dass Jesus nicht im Grab ist. Er ging aber nicht ins Grab, sondern lässt Petrus den Vortritt.

b) „Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war…“ (V. 6)

Er „ging ins Grab hinein“ und entdeckt weitere ‚Indizien‘: neben den Leinenbinden auch das „Schweißtuch“, das „nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle“ (V. 7) lag. Aus diesen ‚Indizien‘ lässt sich immerhin schließen, dass hier wohl keine Grabräuber am Werk waren, die in aller Eile den Leichnam „weggenommen“ hatten. Immerhin befand sich das Grab in einem ‚ordentlichen‘ Zustand. Die LeserInnen und HörerInnen des Evangeliums können eine Verbindung zur Erzählung von der Auferweckung des Lazarus sowie zu Jesu Festnahme und Bestattung herstellen. Lazarus wird auf das Wort Jesu hin – „Löst ihm die Binden“ – von seinen „Binden“ befreit und kann „weggehen“ (11,44). Jesus wird nach seiner Festnahme „gefesselt“ zu Hannas geführt (18,12) und dann „gefesselt zum Hohepriester Kajaphas“ 18,24). Bei seiner Bestattung „nahmen sie Jesus und umwickelten ihn mit Leinentüchern“, d.h., sie schnürten ihn ein, ‚fesselten‘ ihn. Johannes verwendet hier das gleiche Verb wie an den Stellen, an denen er davon spricht, dass Jesus „gefesselt“ abgeführt wird. „Es scheint, dass Johannes damit bewusst an die von Lazarus selbst nicht zu lösenden ‚Fesseln‘ anknüpft, die Jesus bei seiner Auferstehung aus dem Grab einfach von sich wirft“6. Das steht aber so nicht im Text, sondern dürfte sich aus einer christologischen Spekulation ergeben, nach der Jesus kraft seiner ‚göttlichen Natur‘ auferstanden ist. Johannes näher liegt es, angesichts der Hinrichtung des Messias an ein neues Handeln Gottes, an ein neues schöpferischen Wort, das ‚geschieht‘, zu denken. Damit wird deutlich: Gott steht zu seinem Wort der Befreiung, das er mit seinem Namen (Ex 3,14) versprochen hat. Er spricht es jetzt angesichts des Gekreuzigten neu, weckt ihn auf und richtet ihn neu auf. Gottes ‚Eins-sein‘ mit dem Messias formuliert er nicht als ‚Einheit von göttlicher und menschlicher Natur‘, sondern als ‚Eins-Sein‘ im Geschehen der Befreiung (Joh 10,30; 17). Aber auch davon ist unser Text auf der Ebene des Erzählens noch weit entfernt. Zunächst einmal erzählt Johannes:

c) „Da ging auch der andere Jünger, der als Erster an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte“ (V. 8)

Er „sah“ die Leinenbinden und das zusammengebundene Schweißtuch „und glaubte“. Johannes verwendet für „sehen“ unterschiedliche Begriffe. Beim ersten Sehen der Leinenbinden in Vers 5 benutzt er ein Verb (blepo), das Sehen als konstatierendes Sehen, als – von heute her gedacht – empirisches Wahrnehmen meint. Das in Vers 6 benützte Verb (theoreo) deutet schon ein ‚Sehen‘ in Zusammenhängen an. In unserem Vers 8 (horao) nun steht ein Verb, das erkennendes Sehen beinhaltet. Was der „andere Jünger“ ‚glaubte‘ oder ‚sich dachte‘ verrät uns der Text nicht. Der Glaube bleibt rudimentär:

d) Denn sie hatten noch nicht die Schrift verstanden, dass Jesus von den Toten auferstehen müsse“ (V. 9)

Die messianischen Gemeinden versuchen, das Leben, die Hinrichtung und die Auferweckung des Messias von der Schrift her zu verstehen. Sie knüpfen vor allem an die Traditionen vom Menschensohn (Dan 7; 12) oder vom Gottesknecht (an die vier Lieder vom Gottesknecht im Zusammenhang von Jes 48,20 – 55,13) an. „Weitverbreitet war die Auffassung der Peruschim (der Pharisäer, H.B.), daß am Tag des Weltgerichts die Toten aufstehen würden, aber niemand rechnete damit, dass einer vor dem Tag des Endgerichts aus den Toten auferweckt wurde“7. Das suchten die JüngerInnen von der Schrift her zu verstehen.

Der ausdrückliche Bezug auf die Schrift findet sich auch im Evangelium des Lukas (24). Auf dem Weg nach Emmaus legt der noch unerkannt bleibende Auferstanden den beiden Jüngern „ausgehend von Mose und allen Propheten“ dar, „was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (24,27, ähnlich auch 24,32). Bei Johannes zeigt sich bereits wie auch Worte Jesu als „Schrift“ behandelt werden. So dürfte Johannes, wenn er vom Verstehen der Schrift spricht, auch jene Stelle im Blick haben, an der Jesus von seiner Auferstehung als Neuaufrichtung des Tempels redet (2,18ff). Zu denken ist auch daran, dass Jesus im Evangelium des Johannes davon gesprochen hatte, dass mit der „Stunde“ des Messias „Gericht gehalten werde“ über diese Welt(ordnung) und ihr „Herrscher hinausgeworfen“ werde (12,16).

Missverständlich ist in der Übersetzung die Einleitung von V. 9 mit „Denn“. Es bleibt unklar, wie die Beziehung zwischen „sie glaubten“ und „der Schrift“ verstanden werden soll. Dem Zusammenhang des Erzählten wird eher gerecht, wenn der griechische Partikel statt mit „denn“ mit „indessen“ oder „freilich“ übersetzt wird wie Wengst es (mit „freilich“) tut. In seiner Übersetzung heißt es: „Sie hatten freilich nicht die Schrift verstanden…“8 Dann wäre an ein Vertrauen zu denken, dass noch von der Schrift gestärkt werden muss. Sonst bleibt der Glaube ‚rudimentär‘. Das wird auch in der Erzählung deutlich. Sie zielt auf die Sendung der JüngerInnen in die Weltordnung in der Kraft des Geistes, die sie empfangen (20 ,19ff). Vorerst aber „kehrten die Jünger wieder nach Hause zurück“ (V. 10), wörtlich ‚zu sich selbst‘, in ihr ‚Eigenes‘ wie Johannes es zum Abschluss der Abschiedsreden und vor Jesu Gebet gesagt hatte (16,32).

e) Petrus und der „Jünger, den Jesus liebte“ (V. 2)

Hinter dem ‚Wettrennen‘ zum Grab zwischen Petrus und dem „Jünger, den Jesus liebte“ dürfte eine Rivalität um Autoritätsansprüche in den messianischen Gemeinden stehen. Die Autorität des Petrus spiegelt sich schon in den ältesten Traditionen von Jesu Auferweckung. In dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu, das Paulus im Ersten Brief an die Korinther zitiert, wird Petrus, unter denjenigen, denen der Auferweckte erschienen ist, zuerst genannt: Er „erschien dem Kephas, dann den Zwölf“ (1 Kor 15,4). Auch Lukas spricht davon, dass der wirklich auferstandene Herr „dem Kephas erschienen“ ist (Lk 24,33). Dennoch scheint die Autorität des Petrus in den Gemeinden nicht unumstritten gewesen zu sein. Johannes macht neben Petrus die Autorität des „Jüngers, den Jesus liebte“ stark. Es ist jener Jünger, der mit den drei Marien unter dem Kreuz stand (19,25ff). Sie waren mit Jesus solidarisch bis zuletzt, während Petrus mit dem Ziehen des Schwerts zuerst auf einen zelotischen Irrweg gesetzt (18,10f) und danach Jesus verleugnet hatte (18,15-18.25-27). Am Kreuz verbindet der Evangelist den „Jünger, den Jesus liebte“ mit seiner Mutter. Er hatte bis zuletzt getan, was sie bei der Hochzeit zu Kana gesagt hatte: „Was er euch sagt, das tut!“ (2,4).

Dass Johannes Distanz gegenüber der Autorität des Petrus einnimmt, dürfte darin begründet sein, dass er ein geschwisterliches Zusammenleben in den Gemeinden betont, das auf gegenseitiger Solidarität beruht. Beim Mahl vor seiner Festnahme hat er mit der Fußwaschung ein Zeichen gesetzt, „damit auch ihr so handelt wie ich an euch gehandelt habe“ (13,15) – ein Zeichen gegenseitigen solidarischen Dienens ohne Über- und Unterordnung. Auch da hatte Petrus sich gewehrt und musste lernen, sich einzuordnen. Genau darum scheint es Johannes zu gehen, dass sich Petrus als „Fels“ (2,42) in die messianische Gemeinde einordnet und sich nicht über sie stellt. Entscheidend für den Glauben ist die Solidarität mit dem Messias und in der messianischen Gemeinde. Darin ist „der Jünger, den Jesus liebte“ dem Petrus voraus. Entsprechend dem Nachtrag zum Evangelium des Johannes (21) kann Petrus nur dann Hirte der messianischen Gemeinden sein, wenn er bereit ist, ihnen auf dem Weg der Solidarität (21,15.16 wird er nach Solidarität/Agapä) und der Freundschaft mit Jesus (21,17 wird er nach Freundschaft/philia gefragt) voranzugehen.

Maria Magdalena und der Auferstandene (20,11-18)

a) „Maria stand draußen vor dem Grab und weinte…“ (V. 11)

Maria hatte die Nachricht überbracht, dass „der Stein vom Grab weggenommen war“ (V. 1) und dies so gedeutet, dass „sie … den Herrn aus dem Grab weggenommen“ haben (V. 2). Danach beginnt der ‚Wettlauf‘ von Petrus und dem Jünger zum Grab. Maria verschwindet zunächst aus der Erzählung. Nun wird der mit V. 1 begonnene Erzählfaden von Maria wieder aufgegriffen, wenn es heißt, dass sie „draußen vor dem Grab“ stand „und weinte“. Sie steht an dem Ort, von dem aus sich Jesu Spuren aufgelöst zu haben scheinen. Ihr Weinen verbindet die Erzählung von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen mit Jesu Abschiedsreden. Darin hatte Jesus für seinen Weggang zum Vater angekündigt: „Ihr werdet weinen und klagen…“ (16,20). Im Weinen Marias kann die messianische Gemeinde ihre Trauer wieder erkennen, ohne die leibliche Gegenwart des Messias leben und mit der „Bedrängnis“ durch das römische Imperium fertig werden zu müssen, mit einer „Bedrängnis“, die sie einschnürt und in die Enge treibt. „Während sie (Maria, H.B.) weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein. Da sah sie zwei Engel…“ (V. 12)

b) „Sie sagten zu ihr: Frau, warum weinst du?“ (V. 13)

Trotz der Engel, die den Ort ‚besetzen‘, an dem Jesu Leichnam „gelegen hatte“ (V. 12), bleibt Maria bei ihrer Deutung der Situation. Auf die Frage, warum sie weine, antwortet sie: „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (V. 13). Sie sucht weiter nach einem Ort für ihre Trauer. Sie tut sogar einen Schritt in die falsche Richtung:

c) „Sie wandte sich um…“ (V. 14)

Offensichtlich will sie resigniert vom Grab weggehen. Hier hat sie nichts mehr zu erwarten. Mit ihrem Herrn haben sie ihr auch den Ort für ihrer Trauer genommen. Sie will sich zurückziehen wie viele von Jesu JüngerInnen sich nach Jesu Brotrede in Kafarnaum zurück gezogen hatten (6,66). Ihrem resignativen Rückzug aber stellt sich Jesus entgegen; denn: als sie sich umwandte „sah“ sie „Jesus dastehen“. Er stellt sich ihrem Rückzug in den Weg. Sie ist auf der Suche nach Jesu Leichnam, den sie zuerst aufs Kreuz und dann ins Grab gelegt hatten. Und nun sieht Maria „Jesus dastehen“ – aufgerichtet und auf die Füße gestellt, so wie es Ezechiel von der Aufrichtung der Gebeine Israels aus den Ruinen der babylonischen Gefangenschaft beschrieben hatte: „Sie wurden lebendig und sie stellten sich auf ihre Füße“ (Ez 37,10). Aber Maria hatte noch keine Ahnung. Sie „wusste … nicht, dass es Jesus war“, den sie „dastehen“ sah.

d) Und noch einmal: „Frau, warum weinst du?“ (V. 15)

Diese Frage ist diesmal mit einer weiteren Frage verbunden: „Wen suchst du?“ Maria bleibt hartnäckig bei ihrem Irrtum. Sie hält Jesus für den „Gärtner“, ‚verdächtigt‘ ihn Jesus weggebracht zu haben, und bittet ihn darum, ihr doch den Ort zu verraten, damit sie ihn holen kann. Wer sollte auch sonst „frühmorgens“ (V. 1) in dem Garten, in dem Jesus festgenommen (18,1) und bestattet worden war (19,41f), anzutreffen sein? Maria ist ganz auf den Bestatteten, auf ‚Solidarität‘ mit dem Toten ausgerichtet. Dabei dürfte bereits der Garten und der Gärtner eine Anspielung sowohl auf den Paradiesgarten am Anfang der Schöpfung (Gen 2,4ff) als auch auf die „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) sein.

e) Jesus sagte zu ihr: Maria!“ (V. 16)

Jesus ruft – so hatte Johannes erzählt – „die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen“ (10,3). Auch darin ‚geschieht‘, was Jesaja von Gott im Blick auf Israel gesagt hatte: „Ich habe dich beim Namen gerufen…“ (Jes 43,1). Als beim Namen Gerufene hört Maria. Sie kennt die Stimme dessen, der sie ruft – wie die Schafe im Gleichnis vom Hirten die Stimme ihres Hirten kennen (10,4). Und jetzt heißt es noch einmal: „Da wandte sie sich um…“ Sie antwortet Jesus „auf hebräisch“, also in der Sprache der Schrift: „Rabbuni! das heißt: Meister.“ Sie erkennt, dass sie als Jüngerin zu ihrem „Meister“, zu den ‚Seinen‘ gehört. Aber Vorsicht vor einem Zugriff, der den Auferweckten festhalten will:

f) „Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (V. 17)

Der Auferweckte lässt sich nicht ‚fest halten‘. Er ist da, aber nicht greifbar‘ – wie der geheimnisvolle Gottesname, der als ‚Stimme‘ vernehmbar, aber nicht greifbar und verfügbar wird, der nicht einmal genau zu übersetzen ist. Auch die neue Wirklichkeit des Auferstandenen ist mit immanenten Kategorien nicht ‚zu fassen‘. Alles was greifbar und fassbar ist, kann nicht das neue Leben, die ‚neue Schöpfung‘ sein, wofür der Auferweckte ‚dasteht‘. Analog zu Bonhoeffers Diktum: „Einen Gott, den es ‚gibt‘, gibt es nicht, ließe sich sagen: Einen Auferweckten, den es als zu fassenden und festzuhaltenden ‚gibt‘, kann es nicht geben. Er wäre in eine Immanenz gebannt, die er doch durchbrochen und überschritten hat. Nur so kann ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ oder – mit einem johanneischen Begriff gesprochen – ein „ewiges Leben“ möglich sein. Dazu muss die „Weltordnung“ in einem doppelten Sinn überschritten werden: Ihre Herrschaft muss gerichtet und beendet werden, aber auch die von ihr Hingerichteten müssen Gerechtigkeit erfahren und zur Fülle des Lebens kommen, das mit dem solidarischen Widerstand gegen die Weltordnung beginnt. Aber auch hier müssen wir uns in der Erzählung noch gedulden; denn das wird erst ‚spruchreif‘, wenn die messianische Gemeinde den Geist empfangen hat (20,22), den Jesus ihr in seinen Abschiedsreden versprochen hat. Er muss zum Vater hinaufgehen, bei ihm angekommen sein, damit der Geist kommen kann, „den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (16,26).

Maria, die den Auferstandenen nicht ‚fest halten‘ soll, bekommt den Auftrag:

g) „Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“

Nach dem Einspruch „Halte mich nicht fest“ hatte Johannes Jesu Begründung im Perfekt formuliert: „Ich bin noch nicht … hinaufgegangen“. Das, was Maria den JügerInnen ausrichten soll, steht im Präsens: „Ich gehe hinauf…“ Das Hinaufgehen zum Vater ist noch nicht abgeschlossen. Das Präsens ist hier als eine Handlung zu verstehen, die begonnen ist, aber andauert. Das „noch nicht“ gilt also weiter. Das müsste all denen ins Stammbuch geschrieben werden, die bei Johannes vorschnell eine ‚präsentische Eschatologie‘ am Werk sehen, in der alle Verheißungen schon erfüllt sind und nichts Bedeutsames mehr aussteht und die sich in der Permanenz eines Osterjubels tummeln, der nur noch Gewissheiten und keine offene Fragen mehr kennt, der über die Tatsache hinweg jubelt, dass obwohl der Auferweckte die „Welt(ordnung) besiegt“ (16,33) und den „Herrscher dieser Welt(ordnung) hinausgeworfen“ (12,31) hat, die Weltordnung weiter ihr ‚Unwesen‘ treibt und die Geschichte als einer Geschichte der Herrschaft weiterund über Leichen geht – heute sogar mit der Krise des Kapitalismus die Grundlagen allen Lebens zu zerstören droht.

Da muss schon mit Blindheit geschlagen sein, wer nicht sieht, dass an Gottes Verheißung der Befreiung und Rettung auch mit der Auferweckung des Gekreuzigten die versprochene Befreiung für alle „noch nicht“ Wirklichkeit geworden ist, sondern „noch“ aussteht. Der Messias ist solange noch nicht vollends beim Vater angekommen und noch im ‚Hinaufgehen‘ als der neue Himmel und die neue Erde noch nicht für alle Wirklichkeit geworden sind. In der Auferweckung des Messias ist für ihn – so unsere Hoffnung – die Befreiung Wirklichkeit geworden, die für die Welt(ordnung) noch aussteht. „Das Entscheidende ist geschehen, das ist die Botschaft des Johannes, aber dieses Entscheidende ist durch das noch nicht bestimmt. Der Aufstieg zum Vater bedeutet die Befreiung der Welt.“9In der Situation des Johannes – wenige Jahrzehnte nach dem Desaster des Krieges – heißt das auch: Die Niederlage schließt die Geschichte der Befreiung nicht ab. Auch hier gilt: Über die Befreiung ist „noch nicht“ entschieden. Das Vertrauen auf den gekreuzigten und auferweckten Messias hält die Möglichkeit der Befreiung offen.

Bis die mit dem Namen Gottes und seinem Messias verbundene Hoffnung geschehen ist, werden wir die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten als Sieg über die Welt(ordnung) – getreu der Nachricht, die Maria den JüngerInnen auszurichten hat – nicht im Perfekt als dem Modus der Vollendung, sondern im Modus einer unvollendeten Gegenwart zu formulieren haben: „Ich gehe hinauf…“ Wichtig ist dabei die Angabe des Ziels: „zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“. Die messianische Gemeinde ist mit dem Messias auf dem Weg ‚hinauf‘. Sie ist in das solidarische „Eins-Sein“ von Vater und Sohn einbezogen. Genau dies ist die Wurzel der Solidarität in der messianischen Gemeinde, die keine Verhältnisse der Über- und Unterordnungen verträgt. So soll sie auf dem Weg zum Vater leben. In solch solidarischem Miteinander gründet auch die johanneische Skepsis gegenüber Petrus.

h) „Maria von Magdala … verkündete…“ (V. 18)

Während Markus nichts davon erzählt, dass die Frauen die Botschaft von der Auferweckung verkündeten, sondern sogar feststellt „Sie sagten niemandem etwas“ (Mk 16,8), heißt es bei Johannes „Maria von Magdala … verkündete“ den JüngerInnen: „Ich habe den Herrn gesehen“. Damit ist alles gesagt. Es bedarf aber – wie die folgenden Ostergeschichten deutlich machen – der Entfaltung. Maria hat „den Herrn gesehen“, aber als einen, der noch hinaufsteigt und „noch nicht“ am Ziel ist, obwohl er als Auferweckter die Welt(ordnung) besiegt und ‚gerichtet‘ hat.

Maria von Magdala ist die „Erste“ der Verkünder und Verkünderinnen. Wenn sie den Gekreuzigten als „Herrn“ gesehen hat, dann heißt das „zugleich, dass die Herrschaftsansprüche anderer Herren abgewiesen werden“10. Das ist der Inhalt, den Maria den Jüngerinnen und Jüngern, auch dem Petrus, zu verkündigen hat. ‚Keine Herren‘ neben (oder gar noch über) dem ‚einen Herrn‘ – das gilt gegenüber der Welt(ordnung), aber auch innerhalb der messianischen Gemeinde. Das hat Maria zu „verkünden“. Darin ist sie die ‚Erste‘ der Gesandten, der Apostel. In der Rolle, die Maria hier zukommt, dürfte sich die Situation der messianischen Gemeinden wiederfinden, in denen Frauen den Dienst zu leiten wahrgenommen haben – orientiert an den Inhalten der ‚Verkündigung‘. Wenn Jesus der ‚Herr‘ ist und niemand sonst, sind patriarchale Herrschaftsansprüche durchbrochen und ein Raum geöffnet, in dem die Befreiung, die als ‚Ganze‘ noch aussteht, im Widerspruch zur Welt(ordnung) und im solidarischen Miteinander der messianischen Gemeinde gelebt werden kann und soll.

Herbert Böttcher

1Klaus Wengst, Das Johannesevanglium. Neuausgabe, Stuttgart 2019, 545, Anm. 417.

2Vgl. Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums II. Teil: Johannes 10,22-21,25. Texte & Kontexte Nr. 113-115, Berlin 2007, 112ff.

4Veerkamp (Anm. 2), 113.

5Ebd., 114.

6Hans Jürgen Verweyen, War das Wort BEI Gott? Zur Soteriologie des Johannesevangeliums, Regensburg 2019, 148.

7Veerkamp (s. Anm. 2), 117.

8Wengst (Anm.1), 544.

9Veerkamp (Anm. 2), 121.

10Wengst (Anm. 1), 556.