Allerheiligen und ‚Querdenken‘ – Ein Nachtrag zum Fest

Die Verbindung mag auf den ersten Blick ‚quer‘ erscheinen. Der ‚Zufall‘ brachte es mit sich, dass in diesem Jahr Allerheiligen mehr oder weniger zusammenkam mit Protesten von Querdenkern gegen die von der Politik angesichts der Corona-Pandemie verhängten Einschränkungen. In diesen Protesten, in denen sich Menschen z.T. unterschiedlicher politischer Couleur zusammen finden, spiegeln sich Facetten, die zur kapitalistischen Krisengesellschaft gehören:

Da fällt zum einen die ‚Selbstbezüglichkeit‘ im Denken auf. Im Zentrum steht, was die Maßnahmen mit dem eigenen ‚Selbst‘ machen, eine Art ‚Selbstbetroffenheit‘. Das ist nicht als individueller moralischer Makel an den Pranger zu stellen, sondern als Ausdruck der Zurichtung der Individuen auf ein ‚unternehmerisches Selbst‘ zu kritisieren – begleitet von esoterisch-therapeutisch  ausgerichteten Angeboten, die helfen sollen, dem überforderten und erschöpften Selbst wieder auf die Sprünge zu helfen und es wieder herzustellen für den Kampf um Selbstbehauptung durch Selbstoptimierung und Selbstinszenierung nebst erlebnisintensiver Unterhaltungs- und Kulturindustrie. Sich trotz ihrer Abrichtung auf die kapitalistische Normalität autonom wähnende Individuen fühlen sich durch die Einschränkungen eingeengt, bevormundet und gekränkt. Das lässt sie zu Verteidigern von Freiheit und Demokratie werden.

Darin fällt ein zweites auf, das die ‚Selbstbezüglichkeit‘ begleitet: eine ‚falsche Unmittelbarkeit‘, die sich schwer damit tut, sich in ein Verhältnis zum Ganzen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu setzen. Die ‚Selbstbezüglichkeit‘ schafft es nicht, das eigene Selbst in ein Verhältnis zu setzen zu anderen, vor allem zu Kranken und Gefährdeten, aktuell zu denen, die auf den Intensivstationen leiden und um ihr Überleben kämpfen, ebenso wie zu denen, die als ÄrztInnen und medizinisches Pflegepersonal selbst gefährdet und überfordert sind. Unmittelbar eingefordert wird das, was für das eigene Selbst oder die eigene Branche nötig erscheint. ‚Falsche Unmittelbarkeit‘ bleibt auf das fixiert, was in Einzelerscheinungen unmittelbar sichtbar und zum Ärgernis wird. So werden autoritäre Rechte schnell zu Verteidigern der Demokratie, Liberale entdecken plötzlich die mit dem Lockdown verbundenen sozialen Probleme und unkritische Befeuerer der Digitalisierung die sozial ach so wichtigen analogen Welten. Auch das Verhältnis zur Demokratie ist Ausdruck falscher Unmittelbarkeit. Wenn sie mit den unmittelbaren Bedürfnissen nach Freiheit kompatibel ist, wird sie als Schutz der Freiheit eingefordert. Wenn auf der Grundlage der gleichen Demokratie Repressionen gegen von Hartz-IV Betroffene und gegen MigrantInnen der Ausnahmezustand samt der Einschließung in Lagern und der Abriegelung der Außengrenzen durch Polizei und Militär durchgesetzt werden, regt sich kein freiheitliches Mütchen und schon gar keine sich empörende Wut. Solche Freiheit ist sowohl in ihrer liberalen als auch in ihrer autoritären Variante Ausdruck eines sozialdarwinistischen demokratischen Kampfes um das Überleben der Stärksten. Gefordert sind Helden, die sich keiner Macht beugen, wie sie von  Salonfaschisten um den Philosophen Peter Sloterdjik und seinem AfD-Abkömmling Marc Jongen propagiert werden.

Aus anderem Holz ist da das Fest Allerheiligen und der Gedenktag Allerseelen geschnitzt – vor allem dann, wenn wir sie weniger von der Volksfrömmigkeit und mehr von den liturgischen Texten her sehen. Im Blick von ‚Allerheiligen‘ stehen nicht einfach alle Heiligen, sondern ein neues Leben für alle Menschen in einem neuen sozialen Zusammenhang. Das verschafft sich Ausdruck in den Bildern eines neuen Himmels und einer neuen Erde bzw. im Bild der neuen Stadt Jerusalem (Offb 21.22). Diese Bilder fallen nicht idealistisch vom Himmel, sind keine ausgepinselten Ideale. Sie sind entstanden aus der Negation dessen, was Menschen im römischen Imperium zu erleiden hatten, aus dem Widerstand derer, die zu Opfern der römischen Machtverhältnisse geworden sind. Verhältnisse wie damals ‚Rom‘, analog dazu heute Verhältnisse wie diejenigen, die in der von Corona noch einmal durch- und durcheinandergewirbelten tödlichen kapitalistischen Krisengesellschaft entstehen, können nicht das ‚letzte Wort‘ sein. Widerspruch und Widerstand ist angesagt – aber nicht aus der Unmittelbarkeit selbstbezüglicher Betroffenheit und gesellschaftlicher Einzelphänomene, sondern aus der Fähigkeit transzendierender Reflexion und solidarischen Handelns. Sie überschreitet die Befindlichkeiten des eigenen Selbst auf die Anderen hin und nimmt vor allem die Opfer der Verhältnisse in den Blick; sie überschreitet die unmittelbare Fixierung auf Einzelphänomene hin auf die gesellschaftliche Totalität der kapitalistischen Normalität in ihrer zerstörerischen Krise; sie überschreitet nicht zuletzt die Grenze des Todes und setzt ihr die Hoffnung auf Gerechtigkeit für die von den Verhältnissen Besiegten und für alle Toten entgegen. Deshalb gehören ‚Allerheiligen‘ und  ‚Allerseelen‘ zusammen: Allerheiligen als das Fest einer das Selbst, die Verhältnisse und den Tod überschreitenden Hoffnung, und der Gedenktag ‚Allerseelen‘, der uns daran erinnert, dass wir die Hoffnung nicht heils- und siegesgewiss in trockenen Tüchern ‚haben‘, sondern ihre Erfüllung aussteht und die Hoffnung sich Ausdruck verschaffen muss im Widerspruch gegen individualistische Selbstgewissheiten und zugleich gegen katastrophische Verhältnisse, die alle Hoffnung zu dementieren scheinen.

Die Kritik an Selbstbezüglichkeit und falscher Unmittelbarkeit, wie sie in den Protesten gegen die Maßnahmen der Regierung zum Ausdruck kommen, beinhaltet nicht, die Schutzmaßnahmen der Regierung ‚rein zu waschen‘. Es ist nüchtern zu sehen, dass es den Regierungen nicht plötzlich um den Schutz derer geht, die in der kapitalistischen Krisennormalität als Alte und Kranke zu ‚Überflüssigen‘ gehören und als die Gesellschaft belastende Kostenfaktoren gelten. Im Zentrum der Regierungspolitik steht die Funktionsfähigkeit der ‚Systeme‘ Wirtschaft und Gesundheit. Dies freilich schützt in der gegenwärtigen Situation von Corona besonders gefährdete Menschen und wirkt einem elenden Sterben auf den Intensivstationen entgegen.

Mit der Kritik an Selbstbezüglichkeit und falscher Unmittelbarkeit sind auch die mit den einschränkenden Maßnahmen verbundenen sozialen Problemlagen nicht einfach gegenstandslos ebenso wenig wie ein Gesundheitswahn, der in der für Kranke diskriminierenden Parole ‚Hauptsache gesund!‘ zum Ausdruck kommt und der ihn begleitenden positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit. Sie müssen vor allem im Blick auf eine Politik der Resilienz kritisiert werden, die – wie sich das aktuell in der Gesundheitspolitik abzeichnet – darauf ausgerichtet ist, als Gesellschaft gegenüber künftigen Krisen belastbar, flexibel und widerstandsfähig zu machen. Es ist eine Politik der Immunisierung gegenüber vorhersehbaren Krisen. Sie werden als ein Verhängnis akzeptiert, das nicht abgewendet werden kann, vor denen es nur die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen zu geben scheint. Je weiter die Krise des Kapitalismus voranschreitet, desto autoritärer drohen die Schutzmaßnahmen zu werden. Unter dem Primat präventiver Resilienz kann dann alles das, was Corona befördert und künftige Ausbrüche von Infektionen befeuern wird, weiter getrieben werden: die Herrschaft über die Natur, Züchtung und Verwertung von Tieren, Globalisierung und Mobilität für Produktion und Handel… alles unter der abstrakten Herrschaft des irrationalen Selbstzwecks, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Angesichts der logischen und historischen Schranke, auf die die Akkumulation des Kapitals stößt, greifen regulierende Maßnahmen zwecks Begrenzung der Akkumulation ins Leere bzw. verschärfen die Krise der Akkumulation. Als realistische Alternative bleibt die Überwindung des Kapitalismus und die müsste mit Strategien seiner Abwicklung verbunden werden statt all der irrationalen Versuche, ihn auf Biegen und Brechen und um jeden Preis zu erhalten.