Fundsache: Paulus denkt gerade nicht vom Einzelnen her…

Christus ist nicht zuerst und letztlich zu Individuen gekommen und für sie da. Das wäre Paulus ein unvorstellbarer Gedanke so oft und so lang er in der Kirche gedacht worden ist.“1

Diese Fundsache stammt aus einem Text des evangelischen Neutestamentlers Ernst Käsemann. Er ist Schüler von Rudolf Bultmann. Der Name Bultmann steht für das Programm der Entmythologisierung biblischer Texte und ihrer vor allem apokalyptischen und nicht mehr zeitgemäßen Weltbilder. Sie geht einher mit einer existentialen Auslegung der Bibel. Sie soll als Anrede an den Einzelnen in seiner existentiellen Befindlichkeit interpretiert werden. Die biblischen Verheißungen sollen so für den Einzelnen in einer Veränderung seiner existentiellen Situation schon in der Gegenwart erfüllt werden. Das meint der Begriff einer ‚präsentischen Eschatologie‘.

Gegen eine solche Interpretation seines Lehrers wendet sich Ernst Käsemann. In besagtem Text bezieht er sich vor allem auf 1 Kor 15,20-28. Paulus entfaltet hier das vermutlich erste christliche Bekenntnis zu Jesu Auferstehung von den Toten, das er in 1 Kor 15,3-5 überliefert. Im Zentrum seiner Auslegung dieses Bekenntnisses steht nun gerade nicht der Einzelne in seiner existentiellen Befindlichkeit, sondern die apokalyptische Frage nach Herrschaft. Für Käsemann ist es die Herrschaft kosmischer Mächte. Sie muss jedoch – wie dies in der Interpretation Luise Schottroffs deutlich wird2 – weiter gedacht werden auf die geschichtliche Herrschaft Roms. Dabei geht es in der Interpretation des urchristlichen Bekenntnisses zur Auferweckung Jesu nicht primär darum, den Einzelnen seiner eigenen Auferstehung als Wiederbelebung oder Weiterleben nach dem Tod zu versichern, sondern um die Herrschaft Christi, die mit seiner Auferweckung in Kraft gesetzt wird: „Er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt“ (1 Kor 15,25).

Die eschatologischen Verheißungen für alle sind auch mit der Auferweckung des gekreuzigten Messias keineswegs – im Sinne einer ‚präsentischen Eschatologie‘ – erfüllt. Die vorläufige und zeitlich begrenzte Herrschaft Christi „dient einzig dem Zweck, der Alleinherrschaft Gottes Platz zu schaffen. Christus ist der Platzhalter Gottes gegenüber einer Welt, welche Gott noch nicht völlig unterworfen ist, obgleich ihre eschatologische Unterwerfung seit Ostern in Gang gekommen und ihr Ende abzusehen ist“3. Das ist angesichts der römischen und erst recht der heutigen auf globale Vernichtung zutreibenden kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse recht optimistisch formuliert.

Und dennoch steckt in der paulinischen Verkündigung der mit Ostern verbundenen Herrschaft Christi auch für diese Situation die Hoffnung auf Befreiung – sofern sie nicht in einer Pseudoerfüllung im Glück des Einzelnen still gelegt wird. Der Getaufte hat über die Taufe auf den Tod Jesu nach Paulus (Rom 6,3ff) Anteil an einem neuen Leben, das mit der Auferweckung des Messias verbunden ist. Die Hoffnung auf Auferweckung ist dadurch aber noch nicht in der Gegenwart (‚präsentisch‘) verwirklicht, sondern steht noch aus. Paulus formuliert sie auf Zukunft hin: „Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es auch mit der seiner Auferstehung sein“ (Röm 6,5).

Auferstanden ist nur der gekreuzigte Messias. Für die anderen gilt das Leben in der Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Messias inmitten einer Welt, in der nicht Gott, sondern Rom herrscht bzw. einer Welt, die heute dem Kapital als abstraktem Herrschaftsverhältnis unterworfen ist. Wenn in dieser Welt aber bereits Christus kraft seiner Auferweckung zur Herrschaft kommt, ist diesen Herrschaftsverhältnissen ihre Legitimation entzogen. Und in dem einen ist schon vorweg genommen, was für alle noch Wirklichkeit werden muss. Dies entreißt den Einzelnen nicht den Herrschaftsverhältnissen, sondern stellt ihn gemeinsam mit denen, die auf den Messias Jesus vertrauen, in ein kritisches Verhältnis zu den real herrschenden geschichtlichen Verhältnissen, die Paulus als ‚Herrschaft der Sünde‘ beschreibt (Röm 6,11ff). Durch die Verbindung mit Christus von dieser Herrschaft und der Sogkraft befreit, die von ihren „stummen Götzen“ (1 Kor 12,2) ausgeht, mahnt Paulus die so Befreiten, ihre „Leiber als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen“ (Röm 12,2). Leider verschlimmbessert die neue Einheitsübersetzung, wenn sie Paulus fortfahren lässt mit: „darzubringen als euren geistigen Gottesdienst“. Paulus geht es nicht um Geistigkeit als Innerlichkeit, sondern um das, was dem Glauben an die Auferweckung des Messias angemessen ist, nämlich sich nicht „dieser Welt“ des römischen Reiches anzugleichen (Röm 12,2).

Leib ist hier nicht einfach der Leib des Individuums, sondern das leibhaftige Leben, das sich nicht von der Herrschaft Roms bestimmen lässt. Es ist gerade nicht von dem geprägt, was in ihm ist, z.B. von verinnerlichten Herrschaftsverhältnissen, sondern von dem, was ‚von außen‘ auf ihn zukommt, was ihm geschenkt ist durch die Auferweckung des gekreuzigten Messias, die ihn gegen die Verhältnisse ‚rechtfertigt‘ und für Wege der Befreiung aufrichtet. In den Worten Ernst Käsemanns: „Der Mensch ist für Paulus nie bloß er selbst. Wie er immer ein Stück Welt ist, so wird er, was er letztlich ist, immer von außen her, durch die Macht, die ihn ergreift, und die Herrschaft, der er sich anheimgibt.“4

Die Kirche ist nicht eine Ansammlung Einzelner, die schon in der Gegenwart ‚für sich‘ und ‚aus sich‘ Heil erfahren und dabei sie Selbst werden, sondern ‚Leib Christi‘ als eine ‚Gegen-Welt‘ damals gegen die Herrschaft Roms und heute gegen die Herrschaft der Wert-Abspaltungsvergesellschtung, die auch noch in Zeiten ihres Verfalls bis hinein in ihre Barbarisierung aufrecht erhalten werden soll. Weil die Hoffnung auf Rettung noch nicht erfüllt ist, stimmt die messianische Gemeinde bis in ihre Gottesdienste hinein nach Paulus ein in den Schrei der Schöpfung nach Rettung und Befreiung (Rom 8,22ff). Und das gilt, bis die Herrschaft Christi von der uneingeschränkten Herrschaft Gottes abgelöst und vollendet ist (1 Kor 15,28). Dann ist auch der Tod als „der letzte Feind“ entmachtet (1 Kor 15,26).

Werden die apokalyptischen Bilder schlicht entmythologisiert, werden die realen Leiden unter Gewaltherrschaft und die Hoffnungen auf ihr Ende getilgt, die sich in ihnen ‚verbergen‘. Und mit ihrer Existentialisierung geht zugleich der Prozess einer Re-Mythisierung einher, der aktuell seinen Ausdruck in der Mythisierung des vereinzelten Selbst und der sich in ihm vermeintlich verbergenden heilenden Kräfte findet – und das mitten in einer Welt, in der den vereinzelten Individuen immer mehr die Lebensgrundlage entzogen wird und sie dafür auch noch Eigenverantwortung übernehmen und sich selbst heilen sollen.

Dagegen wäre an Paulus und sein apokalyptisches Denken zu erinnern. „Gerade die Apokalyptik gibt der Wirklichkeit, was ihr gebührt, und widersteht der frommen Illusion. Christliche Gemeinde hat die Realität der Kindschaft nur in der Freiheit der Angefochtenen, welche auf die Auferweckung der Toten als die Wahrheit der Vollendung des regnum Christi vorausweist.“5 Das gilt nicht nur für Paulus, sondern für die in der Bibel insgesamt verwurzelten, auf Kritik und Ende der Gewalt zielenden apokalyptischen Traditionen. Unsere Hoffnungen liegen nicht in uns selbst und werden durch die christliche Verkündigung lediglich so aktiviert, dass wir zu uns selbst finden und werden, die wir sind. Diese Hoffnungen sind von anderen geborgt. Wir zehren „von den leidenschaftlichen Hoffnungen anderer – meist ohne selbst noch leidenschaftlich zu sein. Das unglaubliche Wort aus der Johannesapkalypse „Tod wird nicht mehr sein, kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz“ (Offb 21,4) stünde gar nicht da, wäre es nicht gedeckt und gleichsam ‚gegengezeichnet‘ von den zahllosen Opfern in den ‚Verbannungslagern‘ Domitians (51-96) auf Patmos, wo die Geheime Offenbarung entstanden sein soll.“6

1Ernst Käsemann, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band II, Göttingen 6/1970, 105 – 131, 129.

2Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, Stuttgart 2013, 304ff.

3Käsemann, 127

4Ebd., 130.

5Ebd.

6Tiemo Rainer Peters, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2/2017, 16