„Zeugen sein“ (Apg 1,6-8)

Apg 1,6-8

6 Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? 7 Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. 8 Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.

Nach den ersten Versen der Apostelgeschichte sind die Jüngerinnen und Jünger aus ihrer Zerstreuung nach der Hinrichtung Jesu neu gesammelt („beim gemeinsamen Mahl, ‚Salz‘, vgl. zu 1,4). Sie sollen sich nicht von Jerusalem, d.h. von Israel trennen. Für den Weg, der vor ihnen liegt, wird ihnen der Heilige Geist verheißen. Er wird ihnen Kraft geben und sie neu ‚inspirieren‘.

Im Blick auf den Weg, auf den die Jüngerinnen und Jünger vorbereitet werden, legt sich die Frage nahe: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (V. 7). Die Wiederherstellung des „Reiches für Israel“ ist alles andere als abwegig. In der Befreiungsgeschichte Israels ist das Land als Grundlage dafür verheißen, dass Israel als befreites Volk leben kann. Mit der Unterwerfung unter Fremdherrschaft scheint diese Verheißung dementiert und die Grundlage dafür verloren, nach den Weisungen der Tora zu leben – keinem Herren untertan, nur getragen von der Treue zu Gottes Bund mit seinem Volk. Der Befreiungskampf der Zeloten gegen Rom war zur Zeit des Lukas verloren – Jerusalem samt Tempel zerstört und das Volk zerstreut. Dennoch wurde weiter gekämpft, kam es immer wieder zu neuen Aufständen und Blutvergießen.

Aus der Sicht des Lukas führt das nur in neue Katastrophen. Dieser Weg ist verfehlt. Er führt in die Irre. ‚Fehl gehen, in die Irre gehen‘, das ist mit dem Begriff Sünde gemeint. Angesichts dieses Irrgangs bedarf es der Vergebung und eines neuen Anfangs. Zu verabschieden ist nicht das Ziel der Befreiung von der Herrschaft Roms, wohl aber die Vorstellung, die bei Zeloten zu finden war, an die Stelle der Herrschaft Roms solle die Wiederherstellung des „Reichs für Israel“ (V. 7) treten.

Die Antwort des Auferstandenen ist scheinbar ausweichend: „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat“ (V. 8). Die Macht über die Geschichte, über „Zeiten und Fristen“, liegt allein in der Hand Gottes. Für sie gibt es keine geschichtlichen Repräsentanten, keine Könige – auch keiner aus dem Hause Davids, auch kein Volk, das Gottes Herrschaft in der Herrschaft über andere Völker zur Geltung bringen könnte.

Der verweigerten Antwort zu „Zeiten und Fristen“ steht die Orientierung gegenüber: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (V.8). Die Rede vom „Zeugen sein“ greift einen Begriff aus der Gerichtssprache auf. Bei einem Rechtsstreit geht es darum, dass Zeugen für einen Angeklagten, einen Umstrittenen eintreten. Der Prozess um den Messias ist noch nicht zu Ende. Er wird weitergeführt in den Prozessen, die gegen die Zeugen geführt werden, von denen Lukas in der Apostelgeschichte immer wieder erzählt (z.B. Apg 4,8-12; 3,13-26). Dabei geht es immer wieder um die Frage: Ist es auf der Grundlage der jüdischen Tradition ‚legal‘, davon zu sprechen, dass ‚im Namen Jesu‘ der ‚Name von Israels Gott‘ lebendig ist, so dass ‚im Namen Jesu‘ befreit zu werden heißt, von Israels Gott befreit, gerettet zu werden? Zeuge zu sein gilt es zugleich angesichts der Macht des römischen Imperiums, das die Messianer verdächtigt, einem anderen Herrn als dem Kaiser treu zu sein. Das wäre Illoyalität gegenüber dem Imperium. Darauf steht die Kreuzigung.

Da versteht sich von selbst, dass „Zeuge sein“ nicht aus der Kraft des eigenen Selbst gehen kann. Deshalb geht dem Zeuge-Sein eine Verheißung voraus: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird“ (V. 8). Er wird in den Messianern ‚wohnen‘ wie Israels Gott in seinem Volk. Er – nicht der fetischisierte Geist des Imperiums – wird das ‚Selbst‘ der Zeugen prägen, ihr ‚Formprinzip‘ sein und Kraft geben, in Verhören standzuhalten. Zugleich gibt er eine neue Orientierung, die ‚Inspiration‘ für einen neuen Weg. Lukas deutet an, über welche Stationen er führen wird: über „Jerusalem“, „ganz Judäa und Samarien“ hin zu dem Ziel: „bis an die Grenzen der Erde“ (V. 8). Damit ist die Verheißung erfüllt bzw. neu in Kraft gesetzt, die Jesaja angesichts der Zerstreuung Israels im babylonischen Exil mit der Sendung des Knechtes Gottes verbindet:

„Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Nationen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht“ (Jes 49,6).

Es geht darum, Israel „aufzurichten“, neu zu sammeln, ‚wiederherzustellen‘, aber nicht zur Herrschaft über die Völker, sondern zum Dienst an den Völkern. Er besteht darin, sie teilhaben zu lassen, an den Verheißungen von Israels Gott der Befreiung, die zuerst Israel und darin allen Völkern gelten. Deshalb darf es keine Trennung von Jerusalem geben. Jerusalem soll zuerst aufgerichtet werden, dann Judäa, dann Samaria als Gebiet, in denen Juden und Nicht-Juden zusammen leben. Das Ziel des Weges führt bis an „die Grenzen der Erde“. Genau in diesen Etappen wird Lukas den Weg erzählen, den die Messianer gehen und auf dem sie Zeugen des gekreuzigten und auferweckten Messias aus Israel sein werden.

Sie bezeugen dabei, was der Auferstandene am Ende des Evangeliums nach Lukas den Jüngerinnen und Jüngern gesagt hatte:

Lk 24,44-48

44 Dann sagte er zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesprochen habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. 45 Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften. 46 Er sagte zu ihnen: So steht es geschrieben: Der Christus wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen 47 und in seinem Namen wird man allen Völkern Umkehr verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden. Angefangen in Jerusalem, 48 seid ihr Zeugen dafür.

Inhalt ihres Zeugnisses ist in ihrer Interpretation der Schriften Israels:

  • das Leiden des Messias und darin die Solidarität mit allen Leidenden,

  • seine Auferweckung als Erweis der Treue Gottes zu seinem gekreuzigten Messias und darin zu allen Gekreuzigten

  • und so die Gegenwart dessen, was Inhalt des Gottesnamens ist.

„Im Namen Jesu“ kann so den Völkern ein Weg der Umkehr verkündet werden, Umkehr von der Unterwerfung unter Macht und Gewalt zur Befreiung, die sich Menschen ‚zu eigen‘ gemacht, verinnerlicht haben. Diese Umkehr ist mit der Vergebung für diesen Irrweg verbunden, mit einer neuen Aufrichtung für die Wege der Befreiung, für die der Name von Israels Gott steht.